15 Gruselstories
halten können, ihn, dessen Vitalität mich mitriß?
»Mr. Steinway begibt sich heute in die Konzerthalle«, erklärte Leo und schaute mir in die Augen. »Dort hat er morgen eine Verabredung mit mir und wird mit mir spielen. Dabei fällt mir etwas ein: Werden Sie kommen?«
Die einzige Antwort darauf wäre »dumme Frage« gewesen, aber ich hielt sie zurück. Ansonsten fiel mir die Zurückhaltung bei Leo schwer. Besonders, wenn er mich so anschaute wie jetzt. In seinen Augen stand ein unausgesprochenes Verlangen, und seine schmalen, langen Hände, die die Tasten so zart gestreichelt hatten, konnten auch so zart –
Ich denke, daß ich mich klar genug ausgedrückt habe.
Am nächsten Abend hätte mir jeder mein Glück vom Gesicht ablesen können. Nach dem Konzert gingen wir aus. Nur wir vier: Harry und seine Frau, Leo und ich. Und später gab es nur noch Leo und mich – bei Kerzenschein in seinem Appartement. Die Schiebetür zum anderen Raum stand offen. Alles wirkte etwas kahl und öde, weil Mr. Steinway nicht an seinem gewohnten Platz stand.
Wir betrachteten schweigend die Sterne über dem Central Park und schauten uns in die Augen, in denen sich der flackernde Glanz der Kerzen widerspiegelte. Was wir dachten und sagten und taten, ist nicht für andere Ohren oder Augen bestimmt.
Nachdem wir am nächsten Tag die Kritiken gelesen hatten, gingen wir im Park spazieren. Leo mußte warten, bis sie Mr. Steinway zurückbrachten. Mir war das sehr recht, denn es war herrlich, durch den Park zu schlendern. Jedem mußte es so gehen, der im Mai durch den Central Park spazierte. Das frische Grün an den Bäumen, der Sonnenschein, ein Lachen aus der Ferne und die laue Luft mußten die Herzen öffnen.
Nichts konnte diese Stimmung stören.
Nichts?
Leo schaute auf seine Armbanduhr. »Er müßte jetzt schon unterwegs sein«, sagte er und stand von der Bank auf. »Ich sollte wirklich zu Hause sein, wenn er kommt. Mr. Steinway ist zwar groß, aber er ist auch sehr empfindlich.«
Ich griff nach seiner Hand. »Gut, dann wollen wir gehen«, sagte ich.
Er runzelte die Stirn. Er kam mir etwas fremd vor, denn ich hatte ihn noch nie die Stirn runzeln sehen. »Es ist viel leicht besser, wenn du nicht mitkommst, Dorothy. Ich meine – weil der Transport über die Treppen so lange dauert. Und außerdem muß ich üben. Vergiß nicht, daß ich nächsten Freitag einen Abend in Boston gebe; und das bedeutet täglich vier Stunden Training. Mr. Steinway und ich müssen für das nächste Programm in Form sein. Wir geben ein Ravel-Konzert, und Mr. Steinway ist von Ravel nicht sehr begei stert. Uns bleibt auch nicht so sehr viel Zeit, denn Mr. Steinway wird sich schon Mittwoch morgen auf den Weg machen.«
»Soll das heißen, daß du mit Mr. Steinway auch auf Reisen gehst?«
»Aber natürlich. Wo ich hingehe, wird er auch hingehen. Seit Mutter ihn mir geschenkt hat, habe ich nie auf einem anderen Instrument gespielt. Wenn ich es täte, würde ich mich dabei nicht wohlfühlen. Außerdem bin ich sicher, daß es Mr. Steinway das Herz brechen würde.«
Mr. Steinways Herz
Es sah ganz so aus, als hätte ich einen Rivalen. Bei diesem Gedanken mußte ich lachen, und Leo stimmte in mein Lachen ein. Dann begab er sich zu seiner Arbeit, und ich ging in meine Wohnung. Ich wollte schlafen. Vielleicht würde ich auch träumen …
Um fünf Uhr nachmittags rief ich bei ihm an, aber er meldete sich nicht. Ich versuchte eine halbe Stunde lang ihn zu erreichen, dann segelte ich auf einer rosaroten Wolke zu seinem Appartement. Leo mußte von seiner Mutter, die ein ›offenes Haus‹ geführt hatte, die Angewohnheit übernommen haben, niemals die Tür zu verschließen. Ich nutzte diesen Umstand natürlich aus und schlich auf Zehenspitzen in die Wohnung, um Leo zu überraschen. Ich sah ihn in Gedanken am Flügel sitzen. Ich
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