15 Gruselstories
nickte. Aber damit gab ich mich nicht zufrieden.
»Hör mir genau zu, Leo«, sagte ich eindringlich. »Ich frage dich nur einmal, und du mußt dich gleich entscheiden. Willst du Mr. Steinway jetzt, heute noch, verlassen und mit mir gehen? Ich meine es ernst. Packe das Nötigste in einen Koffer und sei in einer halben Stunde in meiner Wohnung. Ich werde Harry anrufen und ihm irgend etwas erzählen. Das ist alles nicht so wichtig. Wichtig ist, daß wir von hier fortkommen. Ich fühle genau, daß wir keine Zeit zu verlieren haben.«
Als mich Leo anschaute, nahm sein Gesicht wieder den toten Ausdruck an. Ich holte tief Luft und wartete darauf, daß hinter mir wieder das schreckliche Tönen einsetzen würde. Aber nichts dergleichen geschah, und als ich Leo zwang, mir in die Augen zu blicken, kehrte in sein Gesicht die Farbe zurück, und er lächelte mich an. Als ich erleichtert aufatmete, sagte er:
»Ich bin in zwanzig Minuten bei dir. Mit meinem Gepäck.«
Alles würde in Ordnung kommen! Ich ging eilig die Treppen hinunter. Und alles war in Ordnung. Es war auch noch in Ordnung, als ich auf die Straße kam. Aber dann hörte ich auf einmal die Schwingungen meiner hohen Absätze. Mir wurde das Geräusch, das die Räder auf dem Pflaster machten, bewußt und das Singen der Telefondrähte im Wind. Das Klicken der Verkehrsampeln dröhnte in meinen Ohren. Ich erfaßte die Geräusche unter den Geräuschen. Die Stimme der Stadt hämmerte auf mich ein. Ich spürte die Qual des Asphalts, die Melancholie des Betons und die Pein des zersplitterten Holzes. Die einzelnen Materialien, aus denen meine Kleidungsstücke hergestellt waren, stöhnten und jammerten und erfüllten mich mit Entsetzen. Alles um mich herum wogte und war voller Schwingungen.
Nichts sah anders als vorher aus, aber alles hatte sich verändert. Denn die Welt war lebendig geworden. Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis wurde mir auch der ungeheure Lebenskampf bewußt, den die einzelnen Materien ausfochten.
Meine Schritte waren lebendig geworden. Das Treppengeländer war eine endlos lange braune Schlange. Es tat dem Schlüssel weh, im Schloß umgedreht zu werden. Als ich den Koffer auf das Bett warf, schrien die Sprungfedern entrüstet auf, und die Kleider stöhnten, als ich sie in den protestierenden Koffer warf. Der Spiegel schimmerte silbern vor Qual, und der Lippenstift schrie, als er von meinen Lippen zerquetscht wurde. Ich würde nie, nie wieder etwas essen können. Denn was würde erst dann passieren!
Aber ich zwang mich, alles zu tun, was nötig war. Als ich auf meine Uhr blickte, versuchte ich nur das Ticken zu hören und nicht das Quietschen der Schrauben und das Murren des Metalls.
Die zwanzig Minuten mußten vergehen!
Aber ich stellte fest, daß bereits vierzig Minuten vergangen waren. Und ich hatte noch nicht einmal Harry angerufen. Der schwarze Hörer und die festgenagelten Telefondrähte am Boden verursachten mir Übelkeit.
Leo müßte längst hier sein!
Der Gedanke, wieder über die Straße zu gehen, war kaum zu ertragen. Aber die Angst um Leo war stärker als die Furcht vor der Straße.
Ich begab mich also wieder in die schäumende Symphonie, wo alle Geräusche Schwingungen waren und alle Schwingungen lebten. Als ich in Leos Wohnung trat, war alles dunkel.
Alles war dunkel bis auf Mr. Steinways Zähne, die wie Stoßzähne eines Elefanten aus einem Wald von Ebenholz und Teak schimmerten. Es war unmöglich, daß Leo Mr. Steinway von dem hinteren Zimmer in den vorderen Raum geschoben hatte. Außerdem haßte Leo Chopin. Er würde nicht im Dunkeln sitzen und den Trauermarsch spielen …
Auf Mr. Steinways Zähnen hatten sich kleine Tropfen gebildet, die ebenfalls glitzerten. Und Mr. Steinways schwere Füße waren
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