15 Gruselstories
feucht. Ich konnte diese Füße immer deutlicher sehen, denn Mr. Steinway rollte und rumpelte langsam, aber unaufhörlich durch den Raum auf mich zu. Er spielte und spielte dabei und wollte mir sagen: ›Mach die Augen auf und schau, schau, schau.‹ Und ich sah Leo auf dem Boden. Er war tot. Wirklich tot. Alle Macht war jetzt in Mr. Steinway vereint. Die Macht zu spielen, die Macht zu leben, die Macht zu töten …
Ja, es ist wahr. Ich habe nach den Streichhölzern gegriffen und den Schwefel befreit. Ich habe das Feuer angezündet, damit das Knistern alle Schwingungen auslöschen sollte. Es war eine Erleichterung und Wohltat zu sehen, wie Mr. Steinway seine achtundachtzig Zähne fletschte, und zu hören, wie er nach einem letzten brüllenden Aufschrei verstummte. Ich gestehe, daß ich das Feuer angezündet habe. Ich gestehe, daß ich Mr. Steinway getötet habe.
Aber Leo habe ich nicht getötet! Warum fragen Sie nicht sie ? Sie sind zwar verbrannt, aber sie wissen es. Fragen Sie die Couch. Fragen Sie den Teppich. Fragen Sie die Bilder an den Wänden. Sie haben gesehen, was passiert ist. Sie wissen, daß mich keine Schuld trifft.
Sie können sie befragen. Sie brauchen nichts weiter als in der Lage zu sein, sich mit Schwingungen in Verbindung zu setzen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Nehmen Sie mich nur als Beispiel. Ich kann alles hören, was sie hier in diesem Raum sagen. Ich verstehe die Fenster und die Wände und die Türen und die Riegel.
Mehr habe ich nicht zu sagen. Wenn Sie mir nicht glauben, wenn Sie mir nicht helfen wollen, dann lassen Sie mich besser allein. Dann lassen Sie mich hier in Ruhe sitzen und lauschen.
Auf die Fenster, auf die Wände, auf die Türen, auf die Riegel …
Wachsfigurenkabinett
Der Tag war für Bertrand sehr trübe und eintönig gewesen, ehe er das Wachsfigurenkabinett entdeckte. Es war einer der nebligen Tage, an denen es nicht richtig hell werden wollte, einer der Tage, an denen Bertrand mit Vorliebe ziellos durch die schmutzigen Gassen der Ufergegend streifte. Dennoch entsprachen solche Tage Bertrands Mentalität am besten. Er fand eine gewisse Freude daran, den scharfen Graupelregen auf seinem Gesicht zu spüren; und es übte einen prickelnden Reiz auf ihn aus, daß er durch den Nebel alles nur verschwommen und schemenhaft erkennen konnte. Der dichte Nebel ließ die schmutzigen Häuser und die engen, winkligen Gassen unwirklich und grotesk erscheinen. Die verwitterten Gebäude wurden zu riesigen grauen vorgeschichtlichen Ungeheuern, die sich zur Ruhe gelegt hatten und erstarrt waren.
So kam es wenigstens Bertrand in seiner blühenden Phantasie vor. Denn Bertrand war ein Poet. Bei genauer Betrachtung allerdings war er ein schlechter Poet. Denn die Gedankengänge, die er zu Papier brachte, waren so wirr und versponnen, daß er niemanden fand, der sie abdrucken wollte. Er hauste in einer Dachkammer, ernährte sich von trockenem Brot und fühlte sich von der Welt mißverstanden. Wenn er in Selbstmitleid versank, was sehr häufig vorkam, pflegte er sein Leben mit dem des verstorbenen Francois Villon zu vergleichen. Bei diesem Vergleich verschwanden Bertrands Depressionen meist. Denn Villon war ein berüchtigter Dieb und Zuhälter gewesen – was man von Bertrand keinesfalls sagen konnte.
Bertrand war ein sehr junger ehrenwerter Mann und ein Genie. Die Leute wußten es nur noch nicht zu schätzen. Und recht geschah diesen Leuten, wenn er jetzt verhungerte! Die Nachwelt würde ihm gewiß ein Denkmal setzen. Mit diesen oder ähnlichen Gedankengängen beschäftigte sich Bertrand die meiste Zeit, und solch trübe Tage wie heute waren besonders für seine stummen Monologe geeignet.
Fast widerwillig mußte er sich selbst eingestehen,
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