15 Gruselstories
daß seine Dachkammer mollig warm war und daß er eigentlich genug zu essen hatte. Denn seine Eltern, die in Marseille lebten und in dem Glauben waren, daß er an der Universität studierte, schickten ihm immerhin regelmäßig Geld.
Er hätte also gut an einem so öden Tag wie diesem in seiner warmen Dachkammer Zuflucht suchen und an einem seiner feinen Sonette, die er immer schreiben wollte, arbeiten können. Aber nein, er mußte durch den dichten Nebel tappen und sich seinen versponnenen Gedanken hingeben. Obwohl er abgedroschene Phrasen haßte, konnte er nicht umhin, das als seine ›romantische Ader‹ zu bezeichnen.
Aber als der junge Mann heute wohl eine Stunde lang am Kai entlanggewandert war, verlor die ›romantische Ader‹ ihren Reiz. Der naßkalte Regen hatte seinen jugendlichen Eifer beachtlich abgekühlt. Zudem bemerkte er, wie sich ein höchst unpoetischer Schnupfen anbahnte.
Aus diesem Grunde war er mehr als erfreut, als er in dieser toten Gegend ein schwaches Licht entdeckte, das ihm durch das milchige Nichts hindurch entgegenschimmerte. Beim Näherkommen entpuppte sich das Licht als eine kahle Birne über einer Tür, die zu einem Keller führte und über der das Wort ›Wachsfigurenkabinett‹ dürftig beleuchtet war.
Zunächst einmal war der junge Poet enttäuscht, denn er hatte gehofft, daß das Leuchtfeuer auf eine Kneipe hinweisen würde. Und solange noch etwas von dem monatlichen Geld seiner Eltern in seinen Taschen klimperte, stand unser Poet mit dem Alkohol auf du und du. Er zuckte resigniert die Achseln. Pech. Aber der Lichtschein deutete wenigstens auf Wärme und Geborgenheit hin – und vielleicht waren die Wachsfiguren auch interessant …
Er stieg die Stufen hinunter und stieß eine dunkle Tür auf. Eine angenehme Wärme strömte ihm entgegen.
Er befand sich in einem schwach erleuchteten Vorraum und schaute in die Richtung, aus der sich schlurfende Schritte näherten.
Ein kleiner, fetter Mann mit einer schmierigen Mütze tauchte aus dem Hintergrund auf. Er kassierte drei Francs Eintritt und drückte mit einem Achselzucken sein wortloses Erstaunen über einen Besucher zu dieser Zeit aus.
Bertrand hing seinen feuchten Mantel über einen Haken und rümpfte unbewußt die Nase. Die modrige Luft, die ihm entgegenströmte und die sich jetzt mit dem speziellen Geruch vermischte, der von feuchten Kleidungsstücken, die in einen warmen Raum kommen, ausgeht, bildete den typischen ›Museumsgeruch‹.
Als Bertrand jetzt auf die große Tür zuging, die zu der Ausstellung führte, merkte er, wie die Melancholie, die ihn im Nebel befallen hatte, nun vollends von ihm Besitz ergriff. Hier im Halbdunkel konnte er seinen Depressionen freien Lauf lassen. Er erging sich in Selbstmitleid, hilflosem Zynismus, unausgegorenen Rachegedanken und wieder in Selbstmitleid. Sein Geist sehnte sich nach etwas Morbidem, seine Gedanken schwammen in einem Meer von Einsamkeit … schwammen in einem Meer von Einsamkeit … das mußte er sich unbedingt merken. Er könnte es vielleicht einmal dichterisch verwerten …
Mit einem Wort: Unser Poet war genau in der richtigen Stimmung für ein Wachsfigurenkabinett. Und ganz besonders für dieses hier, das einen Streifzug durch die Greueltaten der Geschichte darstellte.
Als Bertrand irgendwann einmal einiges Geld beisammen gehabt hatte, hatte er in weiblicher Begleitung das berühmte Kabinett der Madame Tussaud aufgesucht. Seine Erinnerungen an diesen Besuch waren etwas verschwommen, denn er war damals mehr von dem Charme der jungen Dame als von den verblüffend ›lebendigen‹ Wachsfiguren hingerissen gewesen. Aber soweit er sich
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