15 Gruselstories
haben, denn jeder Handgriff, jede winzige Kleinigkeit wirkte absolut authentisch. Der Schöpfer hatte seinen Figuren etwas eingehaucht, was eine frappante Ähnlichkeit mit dem Leben hatte. Nicht nur die Haltung der Figuren wirkte so echt, sondern auch der Gesichtsausdruck. Sie starrten verschlagen, lüstern und böse, ihre Gesichter waren vor Angst oder im Todeskampf verzerrt. Ihre Augen schienen den Beschauer durchbohren zu wollen, die Haare fielen ihnen ganz natürlich ins Gesicht, und ihre Lippen schienen wie durch einen warmen Atemhauch geöffnet.
Jeder der Dargestellten lebte für alle Zeiten in der Phase des Grauens, die seine Existenz im Wachsfigurenkabinett begründete und bei der zu Lebzeiten seine Seele verdammt wurde.
Bertrand schaute sich alles genau an. Neben jeder Darstellung war ein Schild angebracht, auf dem in schwülstigen Worten der Hergang der blutigen Missetat ausführlich beschrieben wurde.
Bertrand las die ganzen Beschreibungen. Er wußte, daß das billigste Sensationsmache war. Ähnliches konnte man nur in den übelsten Revolverblättern finden, die in ihren Berichten zum Entzücken ihrer schwachsinnigen Leser im Blut wateten. Und trotzdem konnte sich Bertrand des Gefühls nicht erwehren, daß irgendwie etwas Großartiges von den schauerlichen Gestalten und Darstellungen ausging. Die Dramen strahlten eine Intensität und Hemmungslosigkeit aus, die sich im alltäglichen Leben jeder scheuen würde, zu zeigen. Er fragte sich, ob diese Zügellosigkeit nur eine weitere Attraktion für den sensationshungrigen Besucher darstellen sollte oder nicht. Vielleicht sollte dem Beschauer der Unterschied zwischen dem Verbrecherleben und seinem eigenen redlichen, aber ziemlich langweiligen Leben mit aller Deutlichkeit eingehämmert werden. Bertrand zog den Kopf ein, als ihm plötzlich zum Bewußtsein kam, daß die dargestellten Szenen in Wirklichkeit stattgefunden hatten und daß die Figuren Nachbildungen von Personen waren, die wirklich einmal gelebt hatten. Und es gab an hundert verborgenen Orten solche Menschen heute noch! Denn die Mörder, Räuber und die wahnsinnigen Unholde waren nicht ausgestorben. Selbst jetzt, in diesem Augenblick, mochte ein Mann mit einem Messer im Nebel auf sein Opfer lauern.
Manche wurden gefaßt, andere kamen davon und konnten ungestört weitermorden …
Unser junger Poet studierte eingehend eine schauerliche Darstellung nach der anderen. Er hatte keine Eile, denn der Nebel hinter den Fenstern war noch so dicht, daß Bertrand keine Lust verspürte, sich auf den Heimweg zu machen. Er verbrachte viel Zeit damit, die Perfektion der Figuren zu bestaunen. Er näherte sich langsam der rechten Wand, die der Wiedergabe der geschichtlich erwiesenen Verbrechen gewidmet war. Darstellungen von Verbrennungen, Plünderungen, Folterkammern und Blutbädern reihten sich aneinander. Auch hier konnte Bertrand dem Schöpfer dieser Szenen seine Bewunderung nicht vorenthalten. Die historischen Kostüme waren durch und durch stilecht. Als Bertrand den Herrscher Cäsar, der sich gerade in einer Folterkammer die Zeit vertrieb, eingehend betrachtete, kam ihm in den Sinn, daß die Herstellung von Wachsfiguren bestimmt nicht einfach war, denn sie erforderte neben einem künstlerischen Geschick auch ein beträchtliches Maß an Einfühlungsvermögen und eine mehr als durchschnittliche Allgemeinbildung.
Dann sah er sie . Sie stand sehr aufrecht und wirkte ungemein anziehend. Sie vereinte alles in sich: Sie war ein Mädchen, eine Frau, gertenschlank und hatte dabei doch jene Rundungen, von denen
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