15 Gruselstories
ein Mann nachts träumt.
Bertrands Augen hefteten sich an die sichtbaren Vorzüge der Dame, aber sein poetisches Gefühl mußte für diese Vorzüge romantische Vergleiche finden. Demnach glich ihr herrliches kastanienbraunes Haar einer karmesinroten Wolke, ihr lächelndes, schmales Gesicht der Maske einer Zauberin, und ihre starren blauen Augen glichen zwei Teichen, in denen jede Seele versinken mußte. Ihre halbgeöffneten Lippen schienen Sinnlichkeit zu verheißen. Sie trug ein hauchdünnes, mit Steinen besetztes Kleid, das nur dazu diente, die Schönheit ihres vollendeten weißen Körpers zu unterstreichen.
Sie war bei genauer Betrachtung schon eine sehr hübsche rothaarige Frau – aber sie war aus Wachs. Sie war aus demselben gewöhnlichen Wachs wie zum Beispiel Jack the Ripper geformt. Sie stand auf Zehenspitzen und hielt in ihren ausgestreckten Händen eine silberne Schale. Sie stand vor König Herodes Thron. Denn sie war Salome, die weiße Hexe mit den sieben Schleiern.
Bertrand starrte in ihr verderbtes ovales Gesicht. Ihre Augen schienen seinen Blick leicht belustigt zurückzugeben. Er glaubte noch nie ein Wesen gesehen zu haben, das so schön war und ihm gleichzeitig solchen Schrecken einflößte. In der Schale, die ihre schlanken Hände umfaßten, ruhte in einer Blutlache das Haupt von Johannes dem Täufer.
Bertrand war unfähig, sich von der Stelle zu rühren. Er starrte nur immer die Frau an. Ihn überkam das wunderliche Verlangen, diese Frau anzusprechen. Ihr mußte sein stummer, glotzender Blick flegelhaft vorkommen, denn ihr Gesicht schien Spott auszudrücken. So rede doch endlich! forderten ihre starren Augen.
Und er wollte reden. Er wollte ihr sagen, daß er sie liebte.
Diese blitzartige Erkenntnis traf Bertrand wie ein Peitschenhieb. Er liebte sie! Er liebte sie mit einer plötzlichen Leidenschaft, die jenseits aller Vorstellungen lag. Er begehrte diese Frau, die doch nichts weiter war als eine Wachsfigur. Ihr Anblick verursachte ihm einen fast körperlichen Schmerz, der sich ins schier Unerträgliche steigerte, als ihm klar zum Bewußtsein kam, daß sie völlig unerreichbar war.
Das war schon mehr als eine Ironie des Schicksals: Er hatte sich unsterblich in eine Wachsfigur verliebt!
Er mußte wahrlich verrückt sein! Aber irgendwie fand unser Dichter Bertrand das Ganze auch wieder ungemein romantisch. Welch gewöhnlichem Sterblichen widerfuhr schon so etwas?
Es gab natürlich einige ähnlich gelagerte Fälle in der Menschheitsgeschichte. Er hatte schon von mehreren effektvoll aufgebauschten Variationen dieses Themas, das so alt wie Leda und der Schwan war, gehört.
Aber Bertrand stellte mit einer gewissen Verzweiflung fest, daß es ihm gar nichts nützte, sich diese Geschichten ins Gedächtnis zu rufen. Er liebte diese Frau. Er liebte ihre Schönheit und das Grauen, das von ihr ausging. Und er würde sie für alle Zeiten lieben. Unser Dichter Bertrand gehörte nun einmal zu dieser Kategorie von Poeten!
Als er wie erwachend seinen Blick von ihr löste, stellte er mit Erstaunen fest, daß der dichte Nebel hinter den Fenstern verschwunden war und daß sich statt dessen ein paar zaghafte Sonnenstrahlen ihren Weg in diesen düsteren, gespenstisch anmutenden Raum bahnten. Wie lange mochte er hier gestanden haben?
Nachdem Bertrand einen letzten seelenvollen Blick auf den Gegenstand seiner Anbetung geworfen hatte, wandte er sich ab.
»Ich komme wieder«, flüsterte er. Dann errötete er schuldbewußt und hastete durch die Halle auf die Tür zu, die ins Freie führte.
Und er kam wieder. Am nächsten Tag, am übernächsten Tag und an den darauffolgenden Tagen.
Das
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