15 Gruselstories
…«
Dann wurde ihm die Gegenwart des anderen wieder bewußt, und er riß sich zusammen. Er warf Bertrand einen langen Blick zu, zögerte und fragte dann sehr langsam:
»Dann war es also – sie –, die dich wieder hingetrieben hat?«
Es lag etwas in Bertrouxs Stimme, das Bertrand veranlaßte, die volle Wahrheit zu sagen. Er fing stockend an zu berichten, redete immer hastiger, bis die ganze Geschichte aus ihm hervorbrach. Er beschönigte nichts, und er verschwieg nichts. Als er erschöpft am Ende war, seufzte der Oberst schwer. Er starrte auf den Boden. Dann räusperte er sich. »Ich habe mir das fast so gedacht, mein Junge«, sagte er. »Deine Familie hat mich hierhergeschickt, weil sie befürchtete, daß dich hier irgend etwas oder irgendwer festhält. Es war mir klar, daß es sich um eine Frau handeln müßte, aber ich habe nicht im Traum daran gedacht, daß es eine Frau aus Wachs sein könnte. Aber als ich mit dir in das Wachsfigurenkabinett ging und sah, wie du die Statue mit deinen Blicken verschlungen hast, da wußte ich Bescheid. Und nachdem ich die Figur selber eingehend betrachtet hatte, verstand ich dich noch viel besser. Als dann noch der Besitzer der Wachsfiguren seine Schauergeschichte zum besten gab, fing ich an, mir ernstlich Gedanken zu machen – soweit ich dazu überhaupt in der Lage war, denn mein Geist war durch die teuflische Schönheit der verfluchten Wachsfigur beachtlich in Unordnung gekommen.
Als ich mich dann von dir verabschiedete, hatte ich wirklich die Absicht, schleunigst abzufahren. Ich muß ehrlich zugeben, daß ich bei diesem Entschluß nicht so sehr auf dein Seelenleben, sondern auf meins bedacht war. Ja, ich gebe es offen zu, daß ich vor mir selbst Angst hatte. Du hast am eigenen Leibe erfahren, Bertrand, welche Macht diese eigenartige Figur auf dich ausübt. Und wenn man dem Besitzer glauben darf, sind ihr auch noch andere Männer verfallen. Ich war zu Tode erschrocken, als ich fühlte, daß sie ihre Macht auch bei mir erproben wollte, bei mir, einem alten Mann, der Liebesempfindungen nur noch vom Hörensagen kennt. Diese rote Hexe will alle, ohne Unterschied, in die Knie zwingen.«
Bertrand blickte den Oberst unverwandt an. Aber der schien das gar nicht zu bemerken und fuhr fort:
»Ich bin also nicht nach Hause gefahren. Dafür bin ich am nächsten Morgen wieder in das Wachsfigurenkabinett gegangen und habe alleine vor ihr gestanden. Ich habe sie genauso angestarrt, wie du sie anstarrst. Als ich mich nach etwa einer Stunde von ihr abwandte, war mein Geist mehr denn je verwirrt. Aber trotz dieser Verwirrung konnte ich die warnende Stimme in meinem Unterbewußtsein nicht überhören. Welche Kraft auch immer von der Statue ausgehen mag: Sie kann weder gut noch richtig sein; und sie hat schon gar nichts mit dem gesunden Menschenverstand zu tun .
Ich habe auf diese warnende Stimme in meinem Innern sehr impulsiv reagiert. Ich rekapitulierte noch einmal in Gedanken die Geschichte des Museumsbesitzers – dieses Mannes mit dem Namen Jacquelin. Dann bin ich zu einer Tageszeitung gegangen und habe das Archiv durchstöbert. Nach langem Suchen bin ich auf den bewußten Fall gestoßen.
Jacquelin hat bei seiner Geschichte erwähnt, daß die Ereignisse viele Jahre zurückliegen. Er hat aber niemals gesagt, wie viele Jahre. Mein lieber Junge, diese Mordaffäre liegt mehr als dreißig Jahre zurück !«
Bertrand schnappte nach Luft. Aber ehe er ein Wort hervorbringen konnte, redete der Oberst schon weiter.
»Aber ansonsten ist alles wahr, absolut wahr. Es gab damals einen Mord, und die Frau von Doktor Jacquelin wurde der Tat überführt. Im Laufe der Verhandlung stellte sich heraus, daß sie unter anderem Namen fünf ähnliche Verbrechen
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