15 Gruselstories
Gedanken blutete. Er wußte. daß der Oberst auf seiner Seite war, ganz einfach, weil es ihn genauso gepackt hatte. Darum schaute er den Älteren jetzt so erwartungsvoll an.
»Wir werden morgen beide in das Museum gehen«, sagte der Oberst. »Zusammen sind wir stark genug, um gegen die geheime Macht oder Suggestion, oder wie immer du es nennen willst, zu kämpfen. Wir werden sehr offen mit Jacquelin sprechen und ihn aushorchen. Wenn er sich weigert zu reden, werden wir zur Polizei gehen. Ich bin überzeugt davon, daß an der ganzen Sache etwas Unnatürliches ist. Gleichgültig, ob es sich um Mord, Hypnose, Magie oder simple Einbildung handelt: Wir müssen der Sache sehr schnell auf den Grund gehen. Ich habe sowohl um dich als auch um mich Angst. Diese verfluchte Statue will mich an sich ketten und versucht mich immer wieder in ihren Bann zu ziehen. Laß uns die Angelegenheit gleich morgen klären. Es ist gefährlich, länger zu warten, denn es könnte eines Tages zu spät sein.«
»Ja«, murmelte Bertrand schwerfällig.
»Also gut. Ich werde dich morgen mittag um eins abholen. Ist dir das recht?«
Bertrand nickte, und der Oberst verschwand.
Unser Poet arbeitete den ganzen Abend über an seinem neuen Gedicht. Auf der einen Seite wollte er es vermeiden, immerfort an Bertroux’ seltsame Geschichte zu denken, und auf der anderen Seite hatte er das Gefühl, er dürfe nicht eher ruhen, bis er das Gedicht zu Ende gebracht hätte. Er spürte in seinem Unterbewußtsein den dumpfen Verdacht, daß er schnell arbeiten müßte, weil sich die Ereignisse in den nächsten Tagen so zuspitzen würden, daß Eile einfach geboten war.
Beim Morgengrauen ließ er erschöpft den Bleistift sinken. Als er ins Bett sank, war er so müde, daß er hoffte, traumlos schlafen zu können. Er wollte von der rothaarigen Frauenfigur, die ihm sonst den Schlaf raubte, verschont bleiben und nicht an seine gräßliche Abhängigkeit von einer Wachsfigur denken.
Er schlief tief und fest, während sich die Sonnenstrahlen vorsichtig über die Scheiben seines Mansardenfensters tasteten. Als er irgendwann aufwachte und sich erhob, ahnte er, daß die Mittagsstunde längst vorbei war, obwohl zu diesem Zeitpunkt die Sonne verblaßt und einem gelben Nebel gewichen war, der vor seinen Fensterscheiben dichter und dichter wurde.
Ein Blick auf die Uhr bestätigte Bertrands Ahnung. Es war schon drei Uhr vorbei.
Bertrand zuckte zusammen. Wo blieb der Oberst? Er war sicher, daß die Concierge ihn wachgetrommelt hätte, wenn sich ein Besucher bei ihr gemeldet hätte. Es gab keinen Zweifel: Der Oberst war nicht gekommen! Und das konnte nur einen Grund haben. Er hatte dem Zwang nicht widerstehen können, Salomes Sirenenklängen zu folgen.
Bertrand kleidete sich in fliegender Hast an und raste zur Tür.
Er klemmte sich das Manuskript mit dem fertigen Gedicht unter den Arm und stürmte die Treppen hinunter. Er bahnte sich seinen Weg durch den dichten, kriechenden Nebel.
Der Tag glich dem vor einem Monat haargenau, nur mit dem Unterschied, daß Bertrand nicht durch die Straßen irrte, sondern zielbewußt auf das Wachsfigurenkabinett zustrebte, um zu seinem qualvollen, unvermeidlichen Stelldichein zu kommen.
Er hatte vollständig vergessen, daß er losgerannt war, um den Oberst zu suchen. Er dachte nur an sie , als er durch den grauen Nebel hastete, um zu dem grauen Gebäude und dem grauhaarigen Mann und dem scharlachroten Feuer ihrer Haare zu gelangen …
Das schwache Licht über dem Eingang leuchtete ihm durch den Nebel entgegen. Er raste die Stufen hinunter und trat ein. Das ganze Museum wirkte wie ausgestorben. Weit und breit war keine Spur von dem kleinen, fetten Besitzer zu sehen. In Bertrands Herz schlich
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