15 Gruselstories
plausible Erklärung zerbrochen. Eine Zeitlang glaubte ich, daß der Besitzer seine einsamen männlichen Besucher hypnotisieren will und dabei die Figur als Medium benutzt. Aber warum? Welchen Sinn sollte das haben? Außerdem warst weder du noch ich hypnotisiert. Nein, das konnte es nicht sein. Es geht etwas von der Frauenfigur selbst aus, irgendeine geheime Macht, die – ich kann es nicht leugnen – an Zauberei grenzt. Sie gleicht einer jener Zauberinnen, über die wir früher in Märchenbüchern gelesen haben. Man kann ihr nicht entrinnen.
Auch ich nicht. Nachdem ich an jenem Nachmittag die Zeitungsredaktion verlassen hatte, ging ich in das Museum zurück. Ich redete mir ein, daß ich das nur tat, um mit dem kleinen grauhaarigen Mann zu reden, um das Geheimnis zu lüften. Aber in meinem Innern wußte ich es besser. Ich schob den Alten beiseite, als ich das Gebäude betrat, und eilte zu ihr . Und wieder einmal starrte ich schweigend in ihr Gesicht. Die unheimliche Wirkung ihrer verderbten Schönheit überwältigte mich. Ich versuchte, ihr Geheimnis zu ergründen, aber statt dessen las sie mir meins von den Augen ab. Ich fühlte, daß sie meine Gefühle für sie erkannte, und ich spürte, daß sie sich über mich lustig machte und daß es ihr Freude bereitete, ihre kalte Macht an mir zu erproben.
Ich ging benommen nach Hause. Als ich abends im Hotel saß und versuchte vernünftig über alles nachzudenken und mich bemühte, einen Schlachtplan gegen sie zu entwerfen, überkam mich plötzlich das dringende Verlangen, zurückzugehen. Dieser Wunsch war so übermächtig, daß ich, ohne zu wissen, was ich eigentlich tat, Sekunden später auf der Straße stand und die Richtung zum Wachsfigurenkabinett einschlug. Als ich dort ankam, lag das Gebäude im Dunkeln, und ich ging unverrichteterdinge wieder ins Hotel zurück. Aber die Sehnsucht und das Verlangen blieben. Ehe ich einschlief, hatte ich das Gefühl, ich müßte unbedingt die Tür verriegeln.«
Der Oberst schaute Bertrand mit flackerndem Blick an, als er flüsterte:
»Du bist jeden Tag freiwillig zu ihr gegangen, mein Freund. Deine Qual, daß sie für alle Zeiten unerreichbar sein wird, ist kaum zu vergleichen mit meiner, denn ich habe mich mit jeder Faser meines Herzens gegen die Verzauberung gewehrt. Und weil ich nicht gewillt war, freiwillig zu ihr zu gehen, hat sie mich gezwungen. Die peinigende Erinnerung an sie verfolgte mich bis in meine Träume. Als ich mich heute morgen auf den Weg zu dir machte, zwang sie mich, meine Schritte in das Museum zu lenken. Ich weiß jetzt, daß die Männer einfach zu ihr kommen müssen. Entweder gehen sie freiwillig, wie du, und beten sie unaufgefordert an oder aber, wenn sie nicht freiwillig zu ihr kommen, zwingt sie sie. Als ich dich vor ein paar Tagen dort sah, schämte ich mich plötzlich. Aber ich konnte mich sträuben, soviel ich wollte, es trieb mich wieder und wieder zu ihr.
Als ich heute dort war, überfiel mich plötzlich die Angst, und ich rannte davon. Ich kam hierher. Als ich dich nicht antraf, beschloß ich zu warten. Ich habe die Tür gewaltsam geöffnet, damit ich mich einschließen konnte. Damit wollte ich mich selber zwingen, nicht wieder fortzulaufen, sondern auf dich zu warten. Ich mußte einfach mit dir reden. Vielleicht gelingt es uns gemeinsam, etwas dagegen zu unternehmen.«
»Was schlagen Sie vor?« fragte Bertrand. Er war über sich selbst erstaunt, wie ernst er die Geschichte des anderen nahm. Aber er wußte, daß er alleine nicht die Kraft hatte, von der Angebeteten loszukommen – mochte sie so böse sein, wie sie wollte. Doch seine Vernunft sagte ihm, daß er gegen die Sirenenklänge der wächsernen Figur kämpfen mußte – auch wenn ihm das Herz bei diesem
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