15 Gruselstories
begangen hatte. Die Zeitungen schlachteten damals diesen Prozeß, der unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführt wurde, enorm aus. In den Verhandlungen fiel oft das Wort ›Hexerei‹. Es fehlte nicht an Andeutungen und Vermutungen, daß Madame Jacquelin eine Hexe wäre, dem Opferwahnsinn verfallen, der sie zu ihren rasenden Metzeleien antrieb. Der alte Kult um die Mondgöttin Hekate wurde erwähnt; und die Anklagevertretung hielt es nicht für ausgeschlossen, daß die rothaarige Frau die Priesterin einer Sekte gewesen wäre, deren Gottesdienst aus Opferungen bestand. Die Opferung von Menschenblut zu Ehren irgendeiner heidnischen Gottheit war im Falle Jacquelin eine vage Vermutung und konnte vor Gericht nicht als Beweis anerkannt werden; aber es gab genug andere Beweise, die ausreichten, um die Frau mehrerer Morde zu überführen.
Darüber hinaus entdeckte ich in den alten Zeitungen Dinge, die der alte Jacquelin nicht erwähnt hat. Die Theorie mit der Hexerei war zwar vom Gericht nicht offiziell anerkannt worden, aber sie kostete im Endeffekt doch den Arzt seine Praxis. Es stellte sich nämlich als erwiesen heraus, daß der gute Doktor, wenn auch in kleinerem Ausmaß, begann in die Fußstapfen seiner Frau zu treten. Bei Blutuntersuchungen nahm er seinen Patienten ein wenig mehr Blut als erforderlich ab, bei Operationen entfernte er ein paar Zentimeter mehr Fleisch … und hin und wieder entwendete er aus den Leichenhallen menschliche Organe. Das scheint mir der wahre Grund dafür zu sein, daß er nach der Verhandlung und der Hinrichtung seine Praxis aufgeben mußte.
Nicht eine einzige Zeitung berichtet davon, daß er nach der Hinrichtung die Leiche seiner Frau zu Modellzwecken bekommen hätte, wohl aber davon, daß die Leiche gestohlen wurde. Und Jacquelin verließ sofort nach der Hinrichtung Paris. Vor siebenunddreißig Jahren!«
Bertrouxs Stimme war heiser geworden.
»Du kannst dir vorstellen, wie diese Entdeckung auf mich wirkte.
Ich bin dann die Zeitungen Jahr für Jahr durchgegangen, um eine Spur von dem Mann zu finden. Den Namen Jacquelin fand ich nirgends. Aber hin und wieder tauchten kurze Meldungen über eine fahrende Wachsfigurenausstellung auf. Unter dem Namen Pallidi zog diese Ausstellung 1916 durch die baskischen Provinzen. Und als der Wagen eine der Städte verlassen hatte, fand man unter dem Platz, auf dem das Zelt aufgeschlagen gewesen war, die Leichen von zwei jungen Männern. Beiden fehlte der Kopf.
Bei der Show eines gewissen George Balto passierte 1924 in Antwerpen fast der gleiche Zwischenfall. Eines Tages wurde in einer Straße in der Nähe der Wachsfigurenausstellung die Leiche eines verstümmelten Mannes gefunden. George Balto wurde festgenommen und ins Kreuzverhör genommen. Man hatte aber keine Handhabe gegen ihn und mußte ihn wieder auf freien Fuß setzen. Die Namen des Besitzers wechselten, aber im Laufe der Jahre gab es noch einige Leichen, die zufällig in der Nähe der fahrenden Ausstellung gefunden wurden. Bei zwei weiteren Fällen beschreibt die Presse aber übereinstimmend den Besitzer der Show als einen ›kleinen, grauhaarigen Mann‹.
Ich fragte mich, was das alles zu bedeuten hat. Meine erste Reaktion war, mich an die Kriminalpolizei zu wenden. Aber dann sagte ich mir, daß die Polizei meine wilden Theorien nur belächeln würde. Ich muß noch viel mehr herausbekommen, um irgend etwas zu beweisen. Meiner Meinung nach ist der Kernpunkt des Geheimnisses die Frage: Was veranlaßt die Männer, diese Frauenfigur anzustarren und ihr zu verfallen? Worin liegt ihre Macht? Ich habe mir den Kopf über eine
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