15 Gruselstories
reden.
Sein Name war Dr. Silversmith.
Bis zu diesem Augenblick war ich überhaupt noch nicht zu mir selbst gekommen. Es war alles so schnell gegangen, daß ich keine Möglichkeit gehabt hatte, einen klaren Gedanken zu fassen.
Das Ganze kam mir wie der Teil eines Traumes vor. Der Sheriff und die Meute draußen, die mich lynchen wollten, das Gerede über einen großen Prozeß und die Leiche im Sumpf.
Das änderte sich aber irgendwie beim Anblick von Dr. Silversmith. Er war wirklich.
Er saß vor meiner Zellentür, schaute mich ruhig an und stellte Fragen. Zuerst einmal wollte er wissen, was mit meiner Mutter geschehen ist.
Er schien also eine ganze Menge über mich zu wissen. Und das machte mir das Sprechen leichter. Ehe ich so recht wußte, wie mir geschah, war ich schon dabei, ihm einiges aus meinem Leben zu berichten. Ich erzählte ihm, wie es war, als ich noch mit meiner Mutter zusammen in der Hütte wohnte, wie sie ihren Liebestrank herstellte und verkaufte, wie wir im Mondschein die Kräuter sammelten und wie ihr großer Tiegel aussah. Ich sagte, daß sie nachts das Haus alleine verlassen hätte und daß ich ihr seltsames Gemurmel aus der Ferne vernommen hätte.
Mehr wollte ich nicht sagen, aber er wußte sowieso Bescheid. Er wußte, daß sie meine Mutter eine Hexe genannt hatten. Er wußte sogar, wie sie gestorben war: daß Santo Dinorelli eines Abends vor der Tür gestanden und ihr sein Messer ins Herz gestoßen hatte, weil sie für seine Tochter den Liebestrank gebraut hatte, woraufhin die Tochter mit einem Fallensteller davongelaufen war. Er wußte auch, daß ich danach allein in der Hütte beim Sumpf lebte.
Aber er wußte nichts von Henoch. Henoch, der die ganze Zeit auf meinem Kopf war und jetzt schlief und sich den Teufel darum scherte, was mit mir passierte …
Aus irgendeinem Grund hatte ich das Verlangen, mit Dr. Silversmith über Henoch zu sprechen. Ich wollte ihm erklären, daß nicht ich es war, der dieses Mädchen getötet hatte. So kam es, daß ich Henoch erwähnte. Ich erzählte ihm von dem Handel, den meine Mutter in den Wäldern abgeschlossen hatte. Sie hatte mich dazu nicht mitgenommen – ich war damals erst zwölf Jahre alt gewesen –, aber sie hatte ein kleines Fläschchen mit meinem Blut bei sich.
Als sie zurückkam, hatte sie Henoch dabei. Sie sagte, er solle mir für alle Zeiten gehören, auf mich aufpassen und mir immer helfen. Ich erzählte das sehr vorsichtig und versuchte zu erklären, daß mich für das, was ich jetzt getan habe, keine Schuld trifft, weil ich seit dem Tode meiner Mutter immer auf Henoch hören muß.
O ja, Henoch hatte mich in den ganzen Jahren genauso beschützt, wie es sich meine Mutter vorgestellt hatte. Sie wußte, daß ich allein nicht fertig werden konnte.
Das alles erzählte ich Dr. Silversmith, weil ich ihn für einen weisen Mann hielt und glaubte, er würde es verstehen.
Aber das war ein Irrtum.
Ich merkte es, als sich Dr. Silversmith vorbeugte, mit der Hand über seinen Backenbart strich und unaufhörlich »ja, ja« murmelte. Seine Augen schauten mich durchdringend an. Sein Blick glich den Blicken der Meute vor dem Gefängnis. Es waren niederträchtige, gemeine Augen, Augen, denen man nicht trauen kann.
Dann stellte er eine Menge unsinnige Fragen an mich. Zuerst über Henoch – obwohl ich wußte, daß er nur vorgab, an Henoch zu glauben. Er fragte mich, wie ich Henoch hören könnte, wenn ich ihn doch nicht sehen konnte. Er fragte mich, ob ich auch jemals andere Stimmen gehört hätte und was ich gefühlt hätte, als ich Emily Robbins tötete, und ob ich – aber an diese Frage möchte ich gar nicht mehr denken. Auf alle Fälle redete er so zu mir, als ob er einen Verrückten vor sich hätte.
Er hatte mich die ganze Zeit zum Narren gehalten,
Weitere Kostenlose Bücher