15 - Im Schatten des Grossherrn 04 - In den Schluchten des Balkan
erreichten.
Zur Mittagszeit machten wir in Nastan halt, und am Abend befanden wir uns in Kara-Bulak, wo wir übernachteten. Dann wendeten wir uns wieder westlich, in der Richtung auf Nevrekup.
Gegen Mittag befanden wir uns auf einer Hochebene, welche sich ganz steil nach Dospad-Dere hinabsenkte. Es gab da keinen eigentlichen Weg, und es wurde uns schwer, uns durch die zahlreichen und dichten Buschgruppen zu winden, welche uns hinderten.
Als wir an einer dieser Gruppen vorbeikamen, tat Rih ganz plötzlich einen Seitensprung, was ich an ihm gar nicht gewohnt war. Ich ließ ihm den Willen, und er schnaubte ganz auffallend, indem er die Nase nach dem Gebüsch hin richtete.
„Sihdi, es ist jemand da drin“, sagte Halef.
„ Vielleicht. Jedenfalls liegt etwas Ungewöhnliches vor.“
Der Hadschi war bereits von seinem Pferde gestiegen und drang in das Gesträuch. Ich hörte einen lauten Ausruf. Er kehrte zurück und sagte:
„Komm herein! Da liegt eine Leiche.“
Natürlich folgte ich ihm mit den anderen. Wir fanden ein kleines, freies Plätzchen, rings von dichten Sträuchern umgeben. Hier lag die Leiche einer Frau, und zwar in knieender Stellung, mit der Stirn an ein eigentümliches Bauwerk geneigt.
Es waren nämlich Steine so übereinander gelegt, daß sie eine Art Altar bildeten, auf dem sich eine Nische befand, in welcher wir ein kleines hölzernes Kruzifix erblickten.
„Eine Christin!“ sagte Halef.
Er hatte recht. Es war ein verborgenes Heiligtum im Walde, vielleicht von dieser Frau unter vielen Mühen errichtet, denn ich hatte die Bemerkung gemacht, daß Steine hier selten waren. Sie hatte dieselben – wer weiß, wie weit und unter welchen Anstrengungen – herbeigeschleppt, um ungestört ihrem Gott dienen zu können.
Ich fühlte mich tief ergriffen, und auch die anderen, obgleich Mohammedaner, standen schweigend da. Der Ort, an welchem Gott eine Seele zu sich ruft, ist ein heiliger Ort.
Ich kniete nieder, um zu beten, und meine Begleiter taten dasselbe. Dann untersuchte ich die Leiche.
Die Frau war vielleicht in der Mitte der Dreißig. Das edle, fein geschnittene Gesicht war hager. Die kleinen Hände, welche gefaltet ineinander lagen und einen Rosenkranz hielten, hatten keine Spur von Fleisch. Am kleinen Finger der Rechten stak ein goldener Reif mit einem Amethyst, doch ohne irgendein eingraviertes Zeichen. Sie war nicht nach bulgarischer Weise, sondern wie eine Türkin gekleidet. Sie hatte vor dem Bild des Gekreuzigten ihr Haupt entblößt. Der Gesichtsschleier lag neben ihr. Sie war jedenfalls schön gewesen; sie war es selbst noch im Tod. Ihr Mund lächelte, und in ihren Zügen lag ein Frieden, welcher vermuten ließ, daß der Todesengel sie mit sanfter Hand berührt hatte.
„Was wirst du tun?“ fragte Halef.
„Es gibt nur eins zu tun: Wir müssen die Angehörigen der Toten zu finden suchen. Diese wohnen in der Nähe, denn eine Frau pflegt sich nicht weit von ihrer Wohnung zu entfernen. Wir müssen in der Nähe von Barutin sein. Kommt! Wir lassen sie natürlich hier.“
Wir stiegen wieder auf und ritten weiter.
Die Höhe senkte sich jetzt steiler abwärts, und die Büsche traten weiter auseinander. Bald erblickten wir ein turmartiges Gebäude, in dessen Nähe mehrere kleine Häuser standen. Da sagte der Pferdebesitzer:
„Das muß der Karaul des Hauptmanns sein.“
Karauls sind Wachttürme, gewöhnlich mit Militär besetzt, zum Schutze der Straße und Gegend. Sie stammen aus früherer Zeit, haben aber ihren Zweck nicht verloren.
Der Turm stand hoch, und wirklich führte tief unten so etwas Straßenartiges vorüber nach einem Ort, den wir in der Ferne erblickten.
„Das ist Barutin“, sagte der Mann. „Ich bin hier, wo wir uns befinden, noch nie gewesen; aber ich habe von diesem Karaul gehört. Es wohnt ein Hauptmann hier, welcher in Ungnade gefallen ist. Er läßt sich nicht viel sehen; er lebt wie ein Einsiedler. Er ist ein Menschenfeind; aber sein Weib soll eine Freundin der Armen und aller Unglücklichen sein.“
„Reiten wir hin!“
Als wir bei dem Turm ankamen, trat uns aus der Tür ein alter Mann entgegen, dem man es ansah, daß er Soldat gewesen war. Einen so dichten, langen Schnurrbart, wie er trug, hatte ich noch niemals gesehen.
„Zu wem wollt ihr?“ fragte er in unfreundlichem Ton.
„Ich höre, daß hier ein Offizier wohnt?“
„Ja.“
„Ist er daheim?“
„Ja. Aber er spricht mit niemand. Reitet weiter.“
„Das werden wir tun; doch sage uns vorher,
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