15 - Im Schatten des Grossherrn 04 - In den Schluchten des Balkan
kurzer Zeit alle jagdbaren Tiere ausgerottet sein würden, wenn es viele solcher Flinten gäbe. Darum nahm er kein Patent auf seine Erfindung. Er behielt das Geheimnis für sich und fertigte nur einige dieser Gewehre. Er starb bald. Andere wollten das Geheimnis ergründen; aber wer die Teile des Gewehres auseinandernahm, der konnte sie nicht wieder zusammensetzen. Das Gewehr war unbrauchbar geworden. Die Wenigen, welche eines besaßen, kamen in der Wildnis um, und ihre Flinten gingen verloren. Dieses Gewehr hier ist vielleicht das einzige, welches noch existiert. Es wird Henrystutzen genannt, und ich möchte wohl wissen, wie es in eure Hände gekommen ist.“
„Ich habe es in Stambul von einem Amerikaly gekauft“, erklärte der Waffenschmied.
„Es zu verkaufen, ist sehr unklug von ihm gewesen! Diese Kugel hier hinter dem Lauf nimmt die Patronen auf. Sie bewegt sich bei jedem Schuß von selbst, sodaß das nächste Loch mit der Patrone sich an den Lauf legt. Soll ich es euch zeigen?“
„Ja, zeige es uns!“
„Wie aber kommt es, daß der Amerikaly dir das Gewehr verkauft hat, ohne dich von seiner Mechanik zu unterrichten?“
„Ich vergaß, ihn zu fragen.“
„So bist du ein Mensch, den ich nicht begreifen kann. Bist du denn in Arkilik geboren, wo die Stiefel keine Sohlen, die Wagen keine Räder und die Töpfe keine Böden haben? Kommt heraus! Ich will euch zeigen, wie mit diesem Gewehr geschossen wird.“
„Ist es denn geladen?“
„Ja. Ihr sollt mir ein Ziel nennen, und ich werde es zehnmal nacheinander treffen.“
Er verließ die Hütte, und sie folgten ihm. Sie waren so gespannt auf das Experiment, daß sie gar nicht an mich dachten. Übrigens waren sie ja von meinem Tod überzeugt; sie brauchten sich also gar nicht um mich zu bekümmern.
„Also – was soll ich treffen?“ hörte ich Halef draußen fragen.
„Schieße nach der Krähe, welche dort auf dem Boden sitzt.“
„Nein; sie würde tot herabfallen, und ich will ja mehrere Schüsse nach demselben Ziel tun. Gehen wir da weit hinüber. Ich will nach der Hütte schießen. Seht ihr die Schindel da oben, welche der Wind fast abgerissen hat? Sie steht vom Dach ab und gibt ein gutes Ziel. Ich werde sie zehnmal treffen.“
Ich hörte, wie ihre Schritte sich entfernten. Halef lockte sie möglichst weit von der Hütte fort, um mir mein Erwachen aus dem Todesschlaf zu erleichtern.
Dort lagen meine Kleider, das Messer, welches der Bettler wieder hingelegt hatte, die Patronen, die Uhr, die Brieftasche, das Portemonnaie, alles, alles beisammen, und daneben hatte man die Büchse an die Mauer gelehnt.
Ich sprang auf und reckte mich. Es lag mir zwar wie Blei in den Gliedern; sie waren schwer und ungehorsam, aber ich konnte sie bewegen. Der Kopf tat mir fürchterlich weh, und als ich die schmerzende Stelle mit der Hand berührte, fühlte ich eine umfangreiche Anschwellung. Aber ich hatte keine Zeit, das zu beachten. Ich fuhr also möglichst schnell in die Kleider, steckte alles wieder zu mir und griff nach der Büchse.
Dazu brauchte ich natürlich mehr Zeit als gewöhnlich; aber Halef schoß in solchen Pausen, daß ich bereits bei dem fünften Schuß fertig war.
So oft er abgedrückt hatte, hörte ich die Beifallsrufe seiner erstaunten Zuschauer. Ich stand jetzt inmitten des Raumes und konnte ihn durch die Fensteröffnung beobachten. Eben hatte er den sechsten Schuß abgegeben. Ich sah deutlich, daß er den Blick nicht nach der Dachschindel empor, sondern nach dem Fenster richtete. Hoffte er, daß ich ihm da ein Zeichen geben werde? Schnell trat ich hin und erhob die Hand, nur zwei Sekunden lang, aber er hatte sie doch gesehen. Er nickte mit dem Kopf und wendete sich zu seinen Zuschauern.
Ich konnte nicht hören, was er sagte, aber er schulterte das Gewehr und kam auf die Hütte zu.
„Zehn Schüsse, zehn!“ hörte ich den Waffenschmied rufen. „Du hast ja erst sechsmal geschossen!“
„Das ist genug“, antwortete er, und er hatte sich jetzt so weit genähert, daß ich die Worte verstehen konnte. „Ihr habt gesehen, daß ich das Ziel mit jedem Schuß traf. Wir wollen die Kugeln nicht verschwenden, denn ich werde sie vielleicht notwendiger brauchen!“
„Wozu denn?“
„Um sie euch durch den Kopf zu jagen, ihr Halunken!“ Bei diesen Worten blieb er stehen und machte Front gegen sie. Der Augenblick des Handelns war gekommen. Wir beide gegen diese Übermacht? Aber der tapfere Kleine verriet keine Spur von Sorge oder gar Angst. Sie hatten
Weitere Kostenlose Bücher