1500 - Der Albino
konnte er sich nicht bewegen. Er musste – so hörte es sich zumindest an – von einem Tisch zum anderen gehen, ohne dass etwas passierte.
Rose Nelson, die neben mir stand, hielt die Arme halb erhoben und hatte ihre Hände zu Fäusten geballt. Auf ihrer Oberlippe wuchs ein dünner Damenbart, dessen feine Härchen zitterten.
Es half alles nichts. Wenn wir mehr sehen wollten, mussten wir die Tür weiter öffnen.
Suko dachte ebenso wie ich. Er nickte in Richtung Tür. Da er näher an ihr stand, schlich er hin, um sie etwas weiter zu öffnen.
Es war natürlich nicht leicht, denn niemand hatte die Angeln in der letzten Zeit geölt. Die Tür würde sich auf ihre Weise bemerkbar machen, und Lucio hatte seine eng anliegende Ohren sicherlich nicht verstopft.
Wir wussten noch immer nicht, was er wollte. Aber wir hörten jetzt etwas anderes. Das konnte ein dumpfer Aufschlag gewesen sein. Etwas war möglicherweise auf den Boden gefallen.
Suko hatte die Gunst des Augenblicks genutzt und die Tür noch weiter geöffnet, als das Geräusch erklungen war. Wir hatten jetzt ein besseres Sichtfeld, und wir sahen nun für einen winzigen Moment die Beine eines Gastes, der über den Boden geschleift wurde.
Ich stand hinter Suko und blickte über seinen Kopf hinweg. Es gab nur eine Erklärung. Lucio hatte sich einen Gast geholt, um irgendetwas mit ihm anzustellen.
Bei ihm musste man mit allem rechnen. Sogar mit einem Mord. Ich glaubte, dass er seit seinem Verschwinden etwas erlebt haben musste, was ihn zu dieser Reaktion veranlasst hatte.
Dann waren die Füße verschwunden.
Wir wollten beide nicht, dass dieser Albino praktisch vor unseren Augen ein Verbrechen beging. Es war uns jetzt egal, ob er uns hörte.
Wir zerrten die Tür auf – nein, wir zerrten sie nicht auf, denn genau in diesem Augenblick trat ein anderes Ereignis ein.
Die zweite Tür wurde aufgezogen. Danach drang eine kurze Schrittfolge an unsere Ohren. Sie war kaum verklungen, als wir die für uns fremde Stimme hörten.
»Verdammt, was tust du da?«
Rose Nelson gab einen kieksenden Laut von sich. So sehr hatte sie sich erschreckt. Einen Atemzug später hörten wir sie flüstern: »Das war Bubi…«
***
Justine Cavallo hatte ihr Ziel fast erreicht. Sie befand sich bereits in der Gegend, in der sich die Kneipe befinden sollte, und sie stellte fest, dass man die Umgebung hier vergessen konnte. Hier war der Hund begraben, und wer hier wohnte, der war wirklich am Ende angelangt.
Hinzu kam der Nieselregen. Er hatte auf ihrem Gesicht einen feuchten Film hinterlassen. Auch die schwarze Lederkleidung war in Mitleidenschaft gezogen worden. Sie schimmerte nass. Hin und wieder rollten Tropfen über sie hinweg.
Sie musste nur noch einen mit Büschen bewachsenen Platz überqueren und konnte dann in die Straße einbiegen, in der die Kneipe lag. Um sie herum wuchsen Bäume mit blattlosen Ästen. Eine Parkbank war umgeworfen worden. Sie sah auch eine alte Statue, die auf einem Sockel stand. An ihr vorbeizugehen war der kürzeste Weg, um die Straße zu erreichen.
Dagegen hatten zwei Typen etwas.
Ihr blondes Haar war ihnen schon aus der Entfernung aufgefallen, und als sich Justine ihnen näherte und ihnen klar wurde, dass die Frau ihnen nicht ausweichen wollte, schauten sich die beiden an, denen die nassen Haare in die Stirn hingen.
»Wollen wir Spaß haben?«
»Ich immer.«
»Dann schnappen wir uns doch den blonden Engel.«
»Und ob. Wir können die Perle auch in das leere Haus bringen. Nach unten, wo die Matratzen liegen.«
»Abgemacht.«
Die beiden Lauernden brauchten nichts mehr zu sagen. Im Nachtschatten des Denkmals sahen sie irgendwie gleich aus. Sie taten alles gemeinsam, und die Tussi schickte ihnen der Himmel.
Die Blonde ging schnell. Verdammt schnell sogar. Und das wunderte die beiden, denn sie hatten den Eindruck, als wäre kaum ein Mensch in der Lage, so schnell zu gehen und so lange Schritte zu machen.
»Mann, die hat ein Tempo drauf.«
»Egal, komm mit.«
Die erste Lederjacke sprang vor.
Plötzlich baute sich ein menschliches Hindernis vor Justine Cavallo auf. Es war ein noch junger Mann. Sie schleuderte ihn auch nicht zur Seite und stoppte ihren Lauf.
»Hallo, Süße, da sind wir ja gerade richtig gekommen. Der Tag ist so traurig gewesen, da wollen wir doch am Abend noch ein bisschen Spaß haben. Und zwar mit dir zusammen.«
Justine hatte sich alles angehört. Bei einem normalen Menschen wäre nach dieser Laufleistung der Atem sehr schnell
Weitere Kostenlose Bücher