1505 - Der blinde Blutsauger
du dich verlassen!«
»He, woher nimmst du deinen Mut?«
»Ich habe ihn eben.«
»Nein, das glaube ich nicht.«
Die Frau hörte ein Schmatzen und danach einen zufrieden klingenden Grunzlaut. »Das sagen wohl alle, aber wenn es so weit ist, dann müssen sie aufgeben oder einsehen, dass ich doch besser bin.«
»Ach ja?«
»Zum Beispiel der liebe Walter. Ich roch ihn, als er den Keller betrat, und plötzlich merkte ich, dass ich einen gewaltigen Durst bekam. Der Saft der Menschen, er kochte in den Adern, und ich erlebte seine Hitze. Ich hab mich nicht mehr zusammenreißen können. Ich musste mich einfach auf ihn stürzen, und dann habe ich zugebissen und getrunken. Es war Wahnsinn. Ich habe das Blut genossen. Es hat mich mit neuer Kraft versorgt, aber ich habe noch nicht genug. Ich bin noch längst nicht satt, und ich werde bald zu dir kommen, um dich zu meiner Braut zu machen. Es wird einfach wunderbar werden, und ich kann dir nur raten, keinen Fluchtversuch zu unternehmen, denn dazu bist du zu schwach. Ich habe von deinem Blut gekostet. Es ist in Ordnung, sodass ich mich schon auf den nächsten Biss freue.«
Er fing an zu lachen und wollte sich kaum einkriegen.
Stella Doyle aber saß starr hinter ihrem Schreibtisch. Sie bewegte nicht mal eine Augenbraue. Es war ungeheuerlich, was sie da zu hören bekommen hatte, und sie fragte sich, ob sie ihrem Schicksal überhaupt noch entgehen konnte.
Trotzdem regte sich ihr Widerstand. Sie gehörte zu den Menschen, die gewisse Dinge nicht so einfach hinnahmen. Die freie Hand ballte sie zur Faust, und sie schnaufte hart, als sie Luft holte.
»Auch deine Zeit wird kommen«, flüsterte sie in den Hörer. »Darauf kannst du dich verlassen. Und ich versichere dir, dass es nicht mal mehr lange dauern wird. Dann wird dein verfluchtes Dasein beendet sein.«
»Meinst du?«
»Ich lüge nicht!«
»Und woher nimmst du deine Zuversicht?«
Stella Doyle hatte die Antwort bereits auf der Zunge liegen. Im allerletzten Moment riss sie sich zusammen, sonst hätte sie noch John Sinclair erwähnt und den Vampir damit gewarnt.
»Die brauche ich nicht irgendwoher zu nehmen, die habe ich einfach. Als Mensch muss man über seinen eigenen Schatten springen, und dafür habe ich mich entschieden.«
»Wer hat dir das gesagt?«
»Niemand. Ich bin von allein darauf gekommen.«
»Das glaube ich dir nicht!«, flüsterte er. »Du hast dich verdammt schnell verändert, und das kann nicht von allein geschehen sein. Wer hat dir geholfen? Wer hat dir Mut gemacht?«
»Niemand.«
Der blinde Blutsauger gab ein Zischen ab. »Halte mich nicht für dumm, wahrhaftig nicht. Ich weiß genau, dass etwas nicht stimmt. Du hast dich verändert, und ich habe gewisse Dinge gespürt, die mir nicht passen. Aber ich kann dir sagen, dass ich nur einmal im Leben eine Niederlage erlitten habe. Da wurde ich geblendet. Aber die Blender waren so arrogant, dass sie dachten, mich ausgeschaltet zu haben. Das traf nicht zu. Ich existiere immer noch. Das weißt du, und ich werde auch weiterhin existieren. So ist das und nicht anders.«
Stella schwieg. Sie war ausgelaugt. Sie wusste nicht mehr, was sie noch sagen sollte. Nur der Name John Sinclair kam ihr nicht über die Lippen.
Aber der Blutsauger war noch nicht fertig. Er war von einem tiefen Misstrauen erfüllt und flüsterte mit scharfer Stimme: »Los, verrate mir, wer dich stark gemacht hat? Wer?«
»Ich selbst!«
»Nein, nein, nein!« Er schrie nicht, aber es hörte sich beinahe so an. Die Frau hatte plötzlich den Eindruck, dass der Vampir neben ihr hier im Büro stehen würde.
Sie wusste nicht, ob es Sinn hatte, ihm eine Antwort zu geben. Während sie noch überlegte, war die Leitung plötzlich tot.
Stella hörte nichts mehr, und sie fing an, sich darüber zu wundern, dass der Vampir so plötzlich aufgelegt hatte.
War etwas passiert?
Die Frage quälte sie auch noch, als der Hörer längst wieder auf dem Apparat lag. Und sie dachte darüber nach, ob es in der Nähe des Vampirs tatsächlich zu einem Zusammenstoß zwischen dem Baron und John Sinclair gekommen war.
Wenn es stimmte, dann gab es nur eine Person, der sie die Daumen drückte, denn Sinclairs Sieg garantierte auch, dass sie am Leben blieb…
Die Warnung war da, und sie war blitzschnell gekommen. Die ausgeprägten Sinne des Blutsaugers hatten die Gefahr schon wahrgenommen, bevor er sie überhaupt sah.
Deshalb hatte er das Gespräch mit der Heimleiterin so schnell unterbrochen. Sein Warnsystem hatte
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