1508 - Der Templerjunge
daran, dass auch niemand mehr einoder aussteigen würde, denn dieser Regional-Express fuhr durch bis zur Victoria Station in London.
Was passieren würde, wusste ich nicht. Tief in meinem Innern hoffte ich, dass nichts passierte.
Der Schaffner war ein älterer Mann mit einem buschigen Oberlippenbart, der wusste, wer ich war, denn ich hatte mich ihm zu erkennen gegeben, ohne allerdings den Grund meiner Reise zu nennen.
Nach seinem Kontrollgang sah ich ihn wieder. Er betrat den Wagen und nickte mir zu.
»Alles okay?«
Ich lächelte. »Sicher.«
Er ließ sich an der gegenüberliegenden Fensterseite nieder, nahm die Mütze ab, wischte mit dem Handrücken über seine Stirn und stöhnte leise auf.
»Müde?«, fragte ich.
»Ja, Mr Sinclair. Das ist ein verdammt langer Tag gewesen.«
»Und wann geht es wieder los?«
Jetzt lächelte auch er. »In zwei Tagen. So lange habe ich Pause. Und da bleibe ich zu Hause. Das Wetter lädt ja geradezu dazu ein, seine Zeit draußen zu verbringen. Ich muss mal sehen, wie sich die Dinge entwickeln.«
»Sicher.«
»Und was ist bei Ihnen so los? Kann man von einem regelmäßigen Dienst sprechen? Ich meine, mein Dienst ist ja regelmäßig, wenn auch auf verschiedene Zeiten verteilt.«
»Nein, Mr Haggerty, davon kann man bei mir nicht sprechen. Die andere Seite hält sich nicht an Regeln oder an Acht-Stunden-Schichten. Meine Kollegen und ich sind praktisch immer auf dem Sprung, und dazu zählt leider auch oft genug die Nacht. Ich kann es nicht ändern, doch man gewöhnt sich im Laufe der Zeit daran.«
»Wie in unserem Job.«
»Sie sagen es.«
Der Schaffner war neugierig. »Sie sind in Dover eingestiegen. Hatten Sie dort zu tun? Oder sind Sie vom Festland gekommen? Ich meine, Sie haben keine Fahrkarte. Man hat mich darauf hingewiesen und…«
»Es ist eine dienstliche Angelegenheit gewesen. Ich hatte in Dover zu tun.«
Haggerty hob unbehaglich die Schultern, bevor er sagte: »Ich will ja nicht neugierig sein, aber worum ist es denn dort gegangen? Um Drogen oder…«
»Sorry, darüber darf ich mit Ihnen nicht sprechen. Aber ich kann Ihnen versichern, dass ich hinter keinem Verbrecher her bin, der sich hier im Zug aufhält.«
Diese Antwort erleichterte ihn. »Danke«, flüsterte er, »dass Sie mir das gesagt haben. Ich befürchtete schon das Schlimmste.«
»Wieso?«
»Dass es hier im Zug zu einer Schießerei kommen könnte oder so. Das wäre schrecklich gewesen.«
»Keine Sorge. So etwas passiert meistens immer nur in den Fernsehkrimis.«
»Sagen Sie das nicht, Sir. Denken Sie an die Anschläge von London in der U-Bahn. Seit dieser Zeit fahre ich immer mit einem verdammt unguten Gefühl durch die Landschaft, und ich schaue mir die Gepäckstücke der Reisenden mit ganz anderen Blicken an. Aber passiert ist bisher noch nichts.« Er klopfte gegen seine Stirn. »Darüber bin ich auch froh.«
»Das glaube ich Ihnen.«
Das Gespräch zwischen uns versickerte, und beide schauten wir aus verschiedenen Fenstern ins Freie.
Lichter huschten wie Schemen vorbei, als wir durch einen kleinen Bahnhof rollten. Die Geschwindigkeit ließ die Welt draußen so fern erscheinen, als wäre sie ins All entrückt. Wer in einem Zug sitzt und mit ihm durch die Nacht rollt, der sitzt in einer abgeschlossenen Welt und scheint mit der normalen nur wenig zu tun zu haben.
So sah ich das auch. Der Schaffner wollte nicht aufstehen. Er hatte seine Beine ausgestreckt, gähnte in seine Handfläche hinein und machte den Eindruck eines Menschen, der kurz davor steht, in einen tiefen Schlaf zu versinken. Er rieb seine Augen, um sich wach zu halten und erklärte mir, dass die Müdigkeit heute bei ihm besonders schlimm wäre.
»Muss wohl am Wetter liegen, Mr Haggerty, es ist einfach zu schnell zu warm geworden.«
»Ja, da stimme ich Ihnen zu. Man kann sich heutzutage auf nichts mehr verlassen. Der Winter war zu warm, der Frühling ist schon ein Sommer, und ich frage mich, wie wir den nächsten Sommer erleben werden.«
»Reden Sie mal mit den Klimakundlern.«
»Lieber nicht. Da kann man den Glauben an all das verlieren, was mich bisher noch aufrecht gehalten hat.«
»Stimmt.«
Der Schaffner reckte sich. »Noch eine gute halbe Stunde, dann laufen wir in London ein. Dann haben Sie Feierabend und ich ebenfalls.« Er grinste. »Ist doch was - oder?«
»Sie sagen es.«
Haggerty nickte mir zu. »Dann werde ich meine Runde mal wieder aufnehmen. Ein wenig Bewegung tut mir gut. Die vertreibt mir hoffentlich einen
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