1510 - Der Hexenbrunnen
Nach der Schwelle begann ein kleiner Flur.
Er war eng, und an der einen Seite befand sich eine Stiege ohne Geländer, die zu einer offenen Luke hoch führte. Am Ende des Aufgangs war es recht düster. Ich dachte an die kleinen Fenster, die ich von außen gesehen hatte und die nur wenig Licht durchließen.
Ich lächelte der Witwe zu, die auf eine offene Tür wies und uns in einen mit alten Möbeln überladenen Raum führte.
Bevor wir etwas fragen konnten, übernahm Erin Kendall das Wort.
»Ich habe in der fraglichen Nacht vor dem Fernseher gesessen und bin eingeschlafen. Dann bin ich von einem Geräusch aufgewacht und zur Haustür gegangen. Ich habe durch das kleine Fenster geschaut und alles mitbekommen.«
»Was genau?«, wollte Suko wissen.
»Der dunkle Wagen hielt dort, wo Sie auch den Ihren abgestellt haben. Leute stiegen aus…«
»Leute?«
»Zwei.«
»Männer oder Frauen?«
»Das weiß ich nicht.«
»Was taten Sie?«
Mrs Kendall schaute Suko an. Sie sprach noch nicht, weil sie von der Erinnerung überwältigt wurde. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Haare waren nicht gekämmt. Sie hingen als graue Strähnen um ihren Kopf, und auf der Gesichtshaut malten sich Flecken ab. Bekleidet war sie mit einer schwarzen Hose und einem grauen Kittelhemd.
»Ich tat nichts, weil ich nichts tun konnte. Ich stand einfach nur da und schaute zu.«
»Aber Sie haben alles gesehen, was dann passierte?«
Sie nickte. Wenig später erfuhren wird, dass die beiden Gestalten ein längliches Bündel aus dem Kofferraum der dunklen Limousine geholt, über den Zaun gehievt und dann in den Vorgarten geworfen hatten.
»Und als ich rausging, fand ich ihn.«
»Das ist sicher schlimm für Sie gewesen, aber wir wollen herausfinden, wer Ihren Mann umgebracht hat und wie das genau geschah.«
»Sein Körper sah so schlimm aus«, flüsterte sie. »Und da waren auch noch die Bemalungen…«
»Ja«, sagte ich. »Darüber wollen wir auch noch mit Ihnen reden, wenn Sie die Kraft dazu aufbringen.«
Erin Kendall setzte sich erst mal hin.
Obwohl wir nicht extra aufgefordert worden waren, nahmen wir ebenfalls Platz.
Mrs Kendall schaute ins Leere. Wahrscheinlich versuchte sie, ihre Gedanken zu sammeln, um eine vernünftige Antwort geben zu können.
Schon in der Nacht hatte sie gesehen, dass mit dem Körper etwas nicht in Ordnung war. Noch jetzt kannte sie den Grund nicht genau, und sie hob die Schultern.
»Aber es ist sehr wichtig«, sagte ich. »Und deshalb sind wir auch hier.«
»Sie hätten sich die Reise sparen können. Ich kann Ihnen nicht helfen. Fragen Sie Inspektor Kendall. Er ist mit dem Fall betraut und…«
»Von ihm kommen wir soeben.«
Erin Kendall horchte auf. »Und?«
»Er hat bisher noch nichts herausgefunden. Deshalb sind wir ja zu Ihnen gekommen.«
»Mehr als ihm kann ich Ihnen auch nicht sagen.«
Suko sah sie an und meinte: »Vielleicht nicht über seinen Tod. Aber mehr über ihn.«
»Wieso?«
»Was er getan hat, wie er lebte. Hatte er Hobbys? War er öfter als gewöhnlich unterwegs?«
Erin Kendall schob die Unterlippe vor. Sie furchte ihre Stirn und nickte nach einer Weile.
»Ja, das stimmt. Bruce war öfter weg.«
»Wann?«
»Meistens in der Nacht. Er kam immer erst in den frühen Morgenstunden nach Hause.«
»Wissen Sie, ob er allein unterwegs gewesen ist?«
»Offiziell schon. Aber ich kann es nicht glauben. Ich denke, dass noch mehr Männer dabei waren.«
»Haben Sie ihn danach gefragt?«
»Sicher.«
»Und?«
»Er hat geschwiegen und mir erklärt, dass es reine Männersache ist. Ich sollte mich um meinen eigenen Kram kümmern. Aber mit diesen Antworten konnte ich nichts anfangen. Tut mir leid.«
»Ja, das können wir uns vorstellen«, meinte Suko und fing noch mal von vorn an. »Er hat also nicht gesagt, wer alles mit ihm unterwegs gewesen ist?«
»Nein, das hat er nicht. Doch ich habe hinten herum gehört, dass er nicht allein war. Andere Männer aus Gaerwen haben sich ebenfalls aus dem Dorf gestohlen. Was sie in den Nächten getrieben haben, weiß ich nicht. Ich habe nicht mal einen Verdacht. Er kam auch niemals betrunken zurück.«
»Wie war er dann?«
Erin Kendall musste nicht lange nachdenken. »Aufgekratzt war er. Richtig aufgekratzt.«
»Aha. Und weiter?«
»Nichts«, murmelte sie. »Er hat nie etwas gesagt. Aber er muss viel Spaß gehabt haben.«
»Denken Sie an eine andere Frau?«, fragte ich jetzt.
Mrs Kendall senkte den Kopf. »Ja und nein. Er war ja nicht allein. Da kann
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