1510 - Der Hexenbrunnen
er wohl nicht bei einer Frau gewesen sein. Was die Männer getrieben haben, ist mir ein Rätsel. Aber es hat Bruce in den Tod getrieben. So viel steht fest.«
»Und was ist mit seinen Freunden? Ist von ihnen noch jemand gestorben?«
»Nein, bisher noch nicht. Jedenfalls habe ich nichts gehört. Außer Bruce ist niemand hier aus dem Dorf ums Leben gekommen. Aber man redet über bestimmte Dinge auch nicht.«
Ich räusperte mich vor der nächsten Frage. »Und Sie sind ihm auch niemals nachgegangen?«
»Ha, davor habe ich mich gehütet. Bruce wäre ausgeflippt. Er war kein sanfter Mensch.«
»Ist er mit dem Auto weggefahren?«
»Nein, das nicht.«
»Dann kann er nicht weit weg gewesen sein.«
»Das schon.«
»Da müssten Sie doch einen Verdacht gehabt haben, Mrs Kendall.«
»Habe ich aber nicht!«, rief sie. »Habe ich nicht! Warum quälen Sie mich denn so? Mein Mann ist tot. Ich stehe allein hier und weiß nicht, wie ich zurechtkommen soll. Das ist alles ein verdammter Mist. Ich weiß nicht, warum es ausgerechnet mich getroffen hat.«
»Pardon, Mrs Kendall, wir wollten Ihnen nicht zu nahe treten. Aber eine Frage müssen Sie uns noch gestatten.«
»Bitte.«
»Sagt Ihnen der Begriff Hexenbrunnen etwas?«
Es war eine Frage, die sie schockte. Jedenfalls gab sie zunächst keine Antwort. Sie saß in ihrem Sessel wie eine Statue. Nicht ein Wort drang über ihre Lippen.
»Bitte, ich…«, begann ich, aber sie unterbrach mich.
»Ja, Mr Sinclair«, flüsterte sie, »der Name sagt mir etwas.«
»Und was bedeutet er?«
»Er steht in der Nähe der Kirche. Er ist ein uralter Metallkessel. In ihm ist die letzte Hexe hier im Dorf umgekommen. Das ist schon fast zweihundert Jahre her. Man hat die Frauen damals zur Hexenprobe in siedendes Öl getaucht. Das hat natürlich niemand überlebt. Aber so ist das nun mal damals gewesen.«
»Und heute?«, fragte ich.
»Ist er ein Mahnmal.«
»Sonst nichts?«
Sie hob die schmalen Schultern. »Vielleicht auch eine Warnung. Ich kann es nicht mit Bestimmtheit sagen. Aber heute ist der Kessel, den wir den Hexenbrunnen nennen, leer. Man sieht ihn nur als ein Denkmal an.«
»Danke.«
»Bitte, ich möchte jetzt allein sein.«
»Natürlich«, sagten Suko und ich wie aus einem Mund. »Wir sind auch sofort weg. Aber es kann sein, dass wir noch Fragen haben und wiederkommen müssen.«
»Das ist mir egal.«
»Gut. Auf Wiedersehen.«
Sie nickte nur. Dann schüttelte sie den Kopf und fing an zu weinen.
Wir stahlen uns aus dem Haus. Suko und ich blieben vor der Haustür stehen, blickten uns an, und Suko fragte: »Denkst du an das, woran ich auch denke?«
»Kann sein.«
»Sag was.«
»Ich denke an den Toten, und ich denke daran, wie er ums Leben gekommen ist. Er wurde nicht verbrannt, sondern verbrüht, wahrscheinlich mit heißem Öl…«
»Wie damals die Hexen.«
»Eben.«
»Tja, John, dann sollten wir uns den Brunnen mal aus der Nähe anschauen.«
»Genau das wollte ich gerade vorschlagen.«
»Mit oder ohne Auto?«
»Ohne. Ein wenig Jogging kann nicht schaden…«
***
Das kleine Leichenhaus war zwar nicht der ideale Ort, um die restlichen Stunden der Nacht zu verbringen, aber das war einer Person wie Justine egal.
Sie brauchte ein sicheres Versteck, und das fand sie in diesem Bau.
Was zudem wichtig war, war die Tatsache, dass sie sich hier nicht weit von diesem Hexenbrunnen entfernt befand.
In den Raum zu gelangen, war kein Problem für sie gewesen. Die Tür war zwar verschlossen, aber das primitive Schloss hatte sich leicht knacken lassen.
Justine Cavallo war in einen kühlen und feuchten Raum gelangt. In der Mitte sah sie einen leeren Sockel. Sonst stand hier der Sarg derjenigen Person, die auf die Beerdigung wartete.
Um die Feuchtigkeit kümmerte sich Justine Cavallo nicht. Das Gleiche galt für den alten Geruch. Einige Bewohner aus dem Ort waren der Meinung, dass sich der Leichengeruch immer halten würde und auch durch offene Fenster nicht vertrieben wurde.
Es gab nur kleine Fenster. Aber Justine störte es trotzdem, dass sie geschlossen waren. Sie öffnete zuerst das an der rechten und danach das an der linken Seite.
Sie hatte es nicht getan, um frischere Luft zu erhalten. Sie wollte hören, wenn sich in ihrer Nähe etwas ereignete. Ansonsten war sie in diesem kleinen Bau gut geschützt.
Rache - an nichts anderes konnte sie denken. Die Rache war wichtig.
Sie konnte nicht akzeptieren, wie man mit ihr umgegangen war. Man hatte versucht, sie umzubringen, nur
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