1515 - Die Balkan-Bestie
schwieg, konnte er sich diese Zeit nehmen.
Jonny trat an das linke der beiden Fenster und schaute ins Freie. Dunst war noch vorhanden, doch er hatte sich nicht verdichtet. Dennoch war die Sicht schlechter geworden, und das lag an der Dunkelheit, die die Dämmerung inzwischen abgelöst hatte.
Eine leere Straße. Es war kein Mensch mehr unterwegs, und auch Augen von Scheinwerfern waren nicht zu sehen. Der gesamte Ort schien ausgestorben zu sein.
Oder nicht?
Jonny hatte sich nach links gewandt, um abermals seinen Blick an den Hauswänden entlang gleiten zu lassen, und dabei hatte er den Kopf weit aus dem Fenster strecken müssen. Und jetzt sah er das, was er eigentlich nicht hatte sehen wollen.
Auf dem schmalen Gehsteig mit seinem rissigen Belag bewegte sich locker laufend ein Tier.
Ein Hund, ein Fuchs, das wäre ihm recht gewesen, aber dieses Tier gehörte weder zu der einen noch zu der anderen Art. Es war ein Wolf.
Der Anblick hatte ihn so geschockt, dass Jonny die Luft wegblieb. Dabei hatte er damit rechnen müssen. Es lief ja alles auf das Vorhandensein dieser Wölfe hinaus, doch zwischen der Theorie und der Praxis klaffte meist eine Lücke.
Doch es gab sie wirklich.
Oder es gab einen.
Und der näherte sich dem Fenster, wie Jonny deutlich erkannte. Ob das Tier sein Haus passieren würde oder nicht, das stand nicht fest, jedenfalls rechnete Jonny damit, dass er bereits von dieser Kreatur gesehen worden war.
Dass er sich vom Fenster zurückzog, war keine Feigheit. Er wollte nur sicher sein und wartete eine halbe Körperlänge zurück ab, was wohl geschehen würde.
Dass er die Fenster nicht geschlossen hatte, das wollte er auch nicht nachholen. Er dachte in diesem Moment an die beiden Engländer, denn er traute ihnen schon einiges zu.
Doch noch war er auf sich allein gestellt.
Die nächsten Sekunden verstrichen quälend langsam.
Schlich der Wolf vorbei?
Jonny konnte leider nicht durch die Mauer sehen. Er musste schon selbst nachschauen und wollte dies an dem zweiten Fenster tun. Das erschien ihm sicherer.
Er kam nicht mal zu einer Drehung. In Höhe der äußeren Fensterkante hörte er das Kratzen, und kaum eine Sekunde später erschien ein Umriss im offenen Viereck.
Es war der Kopf eines Wolfes!
***
Was Manescu sah, erweckte in ihm den Wunsch, weit, weit weg zu sein. Außerdem hatte er sich die Bestie nicht so vorgestellt.
Das musste der Balkan-Werwolf sein, von dem immer gesprochen wurde.
Zwar sah er einen Wolf vor sich, aber zugleich musste er seine Meinung revidieren, denn dieser Wolf hatte auch irgendwie etwas Menschliches.
Er bewegte sich auf zwei langen Beinen, er ging aufrecht, er trug eine bis zu den Knien reichende zerrissene Hose, und auf dem Oberkörper, der aussah wie der eines Bodybuilders, wuchs dichtes Fell.
Das umgab auch seinen Kopf und sah aus wie eine Haube. Nur die Spitzen der Ohren schauten hervor, aber das Gesicht lag frei.
Manescu wollte es nicht als ein Gesicht bezeichnen. Das war schon eher eine Fratze, die zu einem großen Teil aus Gebiss bestand, denn die Bestie hatte ihr Maul weit geöffnet. Darüber zeichnete sich so etwas wie eine Nase ab, und sehr deutlich waren die Augen zu sehen, in denen sich das kalte Licht der Sterne widerzuspiegeln schien. Sie schimmerten gelblich und waren nicht so hell wie das Gebiss mit den mörderischen Reißzähnen.
Der selbst ernannte Wolfsjäger fing an zu zittern. So hätte er sich die Begegnung nicht vorgestellt. Er hatte damit gerechnet, auf normale Wölfe zu treffen, und die sah er plötzlich auch, denn zwei von ihnen tauchten hinter der Bestie auf.
Das Gewehr anheben und schießen. Es war doch so einfach. Das sollte doch kein Problem sein. In der Theorie hatte Manescu es lange genug durchgespielt, jetzt musste er es in die Praxis umsetzen.
Und er schaffte es, obwohl ihm die Waffe doppelt so schwer vorkam wie normal.
Er zielte auf die Kreatur.
Und die sprang!
Es war der Moment, in dem Manescu abdrücken wollte. Er tat es auch, aber die schnelle und heftige Reaktion seines Feindes hatte ihn abgelenkt und zögern lassen.
Der Schuss peitschte zwar auf, doch die Kugel strich schräg an der Gestalt vorbei und verschwand im Nachthimmel.
Das alles nahm Manescu nicht mehr wahr. Der schwere Körper traf ihn mit voller Wucht.
Der Mann gab nicht mal einen Schrei ab. Er fühlte sich wie betäubt. Der Druck schleuderte ihn zurück, und hinter ihm befand sich der Brunnen, in den er hineinkippte.
Früher war er mal tief gewesen.
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