1519 - Das Leichenbild
Weg führte dorthin. Zwei Kurven mussten wir noch hinter uns lassen, dann konnten wir an dem kleinen Platz vor der Kirche vorbeifahren, um zum Friedhof zu gelangen.
Jetzt war es von Vorteil, dass sich Jackson geduckt hatte, denn vor der Kirche stand der Pfarrer in seiner schwarzen Kluft und schaute unserem Wagen nach.
Jackson hatte ihn auch kurz gesehen.
»Der steht auch nicht auf meiner Seite.«
»Warum nicht?«
»Sie glauben gar nicht, wie konservativ er ist. Der lebt wirklich noch im vorvorigen Jahrhundert.«
»Ja, solche Menschen gibt es.«
»Jetzt müssen Sie nach links.«
»Okay, ich sehe schon die Mauer.«
Jackson richtete sich wieder auf, weil die Luft rein war. Es war kaum aufgefallen, dass wir etwas an Höhe gewonnen hatten. Beim Friedhof war es zu merken, denn er lag auf einer leichten Anhöhe und wies einen alten Baumbewuchs auf, der aus Trauerweiden bestand, deren dünne Zweige tief aus der Krone nach unten bogen, als würden sie sich schämen.
»Wo kann ich anhalten?«, fragte ich.
Jackson deutete durch die Scheibe. »Wir werden gleich an einen Seiteneingang gelangen. Da ist Platz.«
»Gut.«
»Außerdem ist er wenig benutzt. Die meisten Besucher erreichen das Gelände von der Kirche aus.«
»Ah ja.«
Der schmale Seiteneingang wurde von Laubbäumen geschützt. Platanen und Eichen standen in der Nähe. Dazwischen hatten sich die Birken mit ihren schlanken Stämmen gedrängt, aber die Bäume bildeten keinen Wald, denn es gab noch genügend Platz zwischen ihnen.
Ich hielt an, wir stiegen aus, und ich sah, dass Jackson blass geworden war. Er strich wieder durch sein Gesicht und hielt die Lippen zusammengepresst.
»Wo meine Frau begraben wurde, kann ich Ihnen nicht sagen. Wir müssen die Stelle erst suchen.«
»Macht nichts.«
Ich hatte das Seitentor bereits aufgezogen, betrat den Friedhof aber noch nicht, weil Jackson mich etwas fragte.
»Haben Sie nicht auch das Gefühl, dass es hier recht seltsam ist, Mr Sinclair?«
»Nicht direkt, wenn ich ehrlich bin.«
»Aber ich.«
»Wieso?«
Er schaute über die Mauer hinweg. »Kann auch sein, dass ich voreingenommen bin, aber der Friedhof ist mir irgendwie nicht geheuer. Als würde ein Schatten über ihm liegen, obwohl wir überhaupt keinen Nebel hier haben.«
»Sie sagen es.«
»Gut, dann suchen wir das Grab. Und hoffentlich treffen wir nicht auf irgendwelche Besucher.«
Ich ging auf seine Befürchtungen nicht ein und betrat einen Weg, der mit Kies bestreut war. Das war weniger zu sehen als zu hören, denn das leise Knirschen unter unseren Schuhen begleitete uns.
Dieser Friedhof würde auch im hellen Sonnenlicht immer düster bleiben.
Dafür sorgten schon die Trauerweiden, die viel Licht schluckten und diesen Dämmerzustand schufen.
Ich schaute mir die ersten Gräber an und wunderte mich. Nicht über die Kreuze oder Grabsteine, sie waren nicht außergewöhnlich, hier ging es um ein anderes Phänomen, denn auf den Gräbern waren auch die Fotos der Toten zu sehen. Manche Menschen sahen alt aus, aber es gab auch Jüngere und sogar welche, die gerade mal die Pubertät hinter sich hatten.
Zwischen zwei Gräbern blieb ich stehen. Das eine war mit einem schweren Eisenkreuz geschmückt, und dort, wo sich die beiden Balken trafen, war das Bild der Person zu sehen, die hier in der Erde lag.
Ich wies auf das Kreuz. »Was sagen Sie dazu, Mr Jackson?«
Er hob die Schultern. »Damit habe ich nicht gerechnet. Ich bin hier auch zum ersten Mal.«
»Unüblich sind die Bilder der Toten nicht. Ich habe es schon auf anderen Friedhöfen in den verschiedensten Ländern gesehen, meist in den Alpenregionen.«
»Da war ich noch nie. Aber dass es das auch hier gibt, überrascht mich schon. Können wir davon ausgehen, dass beim Grab meiner Frau das Bild fehlt, weil es mir geschickt wurde?«
»Nicht schlecht, Ihr Gedanke.«
»Und warum hat man mir das Foto geschickt, Mr Sinclair? Wollte man mich aus dem Knast hierher auf den Friedhof locken?«
»Das weniger«, antwortete ich. »Man muss eher davon ausgehen, dass irgendeine fremde Macht aus bestimmten Gründen will, dass Sie den Kontakt mit ihrer verstorbenen Frau nicht verlieren. So sehe ich das.«
»Ja, und jetzt sagen Sie mir bitte den Grund.«
»Den weiß ich leider nicht. Aber ich denke, dass wir ihn bald herausfinden.«
Ebby Jackson gab mir keine Antwort. Sein Gesicht nahm einen starren Ausdruck an, und ich sah, dass er eine Gänsehaut bekam.
Der Friedhof war doch größer, als es von außen
Weitere Kostenlose Bücher