1519 - Das Leichenbild
ausgesehen hatten. Zur einen Seite hin wuchsen keine Bäume, und so glitt unser Blick über die Landschaft hinweg in eine grüne Weite, die wie auf einem Präsentierteller vor uns lag. So hätte auch ein Gemälde aussehen können, nur dass sich dort keine Vögel durch die Luft bewegt hätten.
Den Hauptweg hatten wir hinter uns gelassen, ohne das Grab entdeckt zu haben. Dafür waren wir der Kirche näher gekommen. Ihr Turm wuchs hoch in den Himmel und sah aus wie ein spitzer Hut.
Es gab noch Nebenwege, und die nahmen wir uns jetzt vor. Außerdem suchte ich nach einem kleinen Feld, auf dem die zuletzt verstorbenen Menschen beerdigt worden waren.
Das Glück war uns hold. Mir fiel weiter unten ein Grab mit frischen Blumen auf, und ich winkte Jackson zu, mir zu folgen.
»Haben Sie was gesehen?«
»Ich glaube schon.«
Er stellte keine weiteren Fragen und ging hinter mir her. Durch den Kies war der Boden leicht rutschig, und wir mussten schon achtgeben, dass wir nicht ausrutschten.
Ich hatte tatsächlich ein frisches Grab gesehen. Auf ihm lagen noch Blumen und ein kleiner Kranz. Die Erde war nicht richtig geglättet worden, und auf einem schlichten Holzkreuz las ich den Namen. Martha McCourt.
»Hier könnte es sein, Mr Sinclair.«
»Das glaube ich auch.«
Links von uns gab es noch ein Stück freier Erde, auf der nur Gras wuchs. Rechts sah ich das Quadrat mit den zuletzt geschaufelten Gräbern, und da hatten wir Glück, denn es dauerte nicht mal zwei Minuten, bis wir vor dem Grab standen, das wir suchten.
Alle Gräber, die wir bisher gesehen hatten, wiesen Bilder auf, nur das nicht, vor dem wir standen. Da war auch kein Kreuz zu sehen, sondern ein schlichter Stein. Dort, wo das Bild mal seinen Platz gehabt hatte, war der Stein etwas ausgehöhlt.
Ich sprach nicht, und auch Ebby Jackson brachte keinen Ton hervor.
Zudem wollte ich ihn nicht stören, er sollte mit seinen Empfindungen allein sein.
Obwohl er versuchte, den Mund hart zu schließen, gelang ihm dies nicht.
Seine Lippen zitterten, und dieses Zittern übertrug sich auf seine Schultern.
»Hier unten liegt sie, Mr Sinclair. Und ich bin als ihr Mörder verurteilt worden. Man wird mich hier im Ort hassen, denn hier leben noch Amys Verwandte.«
»Es war ein Unglück.«
»Das sagen Sie. Aber ich frage Sie, wer mir hier glauben würde? Niemand, denke ich. Trotz der räumlichen Trennung war Amy mit Blackwater stark verwachsen.«
Jackson schluckte immer wieder. Dieses Stehen am Grab wühlte ihn auf.
Er stellte sich selbst Fragen, die er auch aussprach.
»Warum hat man das Bild weggenommen und mir geschickt? Und wer hat es getan?«
»Keine Ahnung.«
»Es muss jemand aus dem Ort gewesen sein, der sich partout nicht mit dem Urteil abfinden wollte. Er wollte, er will mehr, meinen Tod, meine Vernichtung von dieser Welt.«
Ich nahm den Ball auf, den er mir zugeworfen hatte. »Wer könnte es denn sein?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Haben Sie denn einen Verdacht?«
Er hob die Schultern.
»Denken Sie an die Verwandtschaft, die noch hier wohnt.«
»Sie meinen die Shannons? So hieß meine Frau mit Mädchennamen. Ja, die gibt es hier. Manchmal habe ich sogar den Eindruck gehabt, dass hier jeder mit jedem verwandt ist, auch wenn er nicht Shannon heißt. In den kleinen Orten ist eben alles anders. Und da ich nicht wollte, dass mir jeder in die Karten schaute, habe ich London so geliebt. Ich habe sehr gern in der Großstadt gewohnt, auch wenn es nicht billig war.«
Mich interessierte das Thema weniger, deshalb schlug ich vor, dass wir uns um die Verwandten kümmerten.
»Ha, die werden mich vom Hof jagen, wie man so schön sagt.«
»Keine Sorge, ich bin bei Ihnen.«
»Die waren immer sehr komisch.«
»Wie meinen Sie das?«
»Überzogen fromm. Sehr in der alten Tradition verhaftet. Sie glaubten an Gott, aber auch an den Teufel. Alle Shannons, die ich kenne, waren davon überzeugt, dass er existiert. Das muss wohl auf meine Frau abgefärbt haben. Zumindest in den letzten Monaten. Da hat sie oft vom Teufel gesprochen.«
»War sie denn öfter hier zu Besuch?«
»Nein, das hielt sich in Grenzen.« Er deutete auf das Grab. »Der Kontakt ist trotzdem nie abgebrochen. Das habe ich an der Höhe der Telefonrechnungen gesehen. Sie hat oft mit ihren Verwandten hier in Blackwater telefoniert.«
»Dann kann man sie auch beeinflusst haben.«
»Sie sagen es, Sir.«
»Und das Grab ist gepflegt worden, trotz allem, wie man sieht. Man lässt sie nicht im Stich.« Ich
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