1519 - Das Leichenbild
mein Schützling begriffen, der sich mit zitternder Stimme meldete.
»Sie werden uns jagen wie ein Stück Wild, Sir. Das weiß ich. Es wird keinen Platz in diesem Ort geben, wo wir sicher sind. Verdammt noch mal, das kann gefährlich werden.«
»Wichtig ist, dass wir die Ruhe bewahren, Ebby. Abgerechnet wird immer zum Schluss.«
»Wollen Sie sich denn verkriechen?«
»Nein.«
»Was dann?«
»Ich weiß es noch nicht. In meinem Leben habe ich gelernt, spontan zu reagieren. Wir müssen zunächst alles andere zur Seite stellen. Es steht fest, dass wir uns nicht jagen lassen, denn wir werden bestimmen, wo es lang geht. Bevor die Menschen die Kirche verlassen, sind wir längst draußen. Und dann nehmen wir uns den Pfarrer vor.«
Als hätte ich Kevin Archer ein Stichwort gegeben, übernahm er erneut das Wort.
»Unsere Schwester Amy Shannon ist hier in Blackwater ihrem Wunsch entsprechend zur Letzten Ruhe gebettet worden. Sie hat es so gewollt, wir haben ihr den Gefallen erwiesen, obwohl sie den falschen Weg ging. Doch zum Schluss hat sie wieder in den Schoß der Gemeinschaft zurückgefunden, und nur das zählt für mich. Mag es auch viele Rätsel um ihren Tod gegeben haben, wir wissen es besser und haben so reagiert, wie es sein musste. Ich verstehe eure Angst. Ich weiß, dass ihr Bild verschwunden ist. Ich habe es nicht übers Herz gebracht, ein Kreuz auf ihr Grab zu stellen. Ich werde dies auch in Zukunft nicht tun. Aber Amy ist unser Problem. Ich will nicht, dass sich ihr Mörder einmischt. Deshalb muss er verschwinden. Wir müssen zusammenhalten, darum bitte ich euch.«
Der Geistliche erhielt zunächst keine Antwort, die er vielleicht erwartet hatte. Dafür meldete sich wieder die Mutter der Toten.
»Ich möchte etwas sagen, und ich will es hier vor allen Leuten loswerden. Ich habe manchmal den Eindruck, dass meine Tochter zwar tot ist, aber nicht richtig, wenn ihr versteht. Etwas von ihr ist zurückgeblieben, und es kann sein, dass es unsere Schuld ist und nicht die meiner Tochter.«
Der Pfarrer auf der Kanzel hob die Hände. »Bitte, ich verstehe dich, Sandra Shannon, aber hüte deine Zunge. Rede nicht so. Wir haben sie begraben, und das ist eine Tatsache, verstanden?«
Sandra Shannon gab nicht auf. »Ja, wir haben sie begraben. Aber nur ihr Körper liegt unter der Erde. Was ist mit ihrer Seele? Ich frage mich, wo sie sich befindet.«
»Ich kann dir die Antwort nicht geben!«, erklärte der Pfarrer.
»Nicht im Himmel!«, schrie die Frau. Sie war längst aufgestanden.
»Nein, nicht im Himmel! Ich möchte nicht, dass sie in der Hölle schmort. Wir alle wissen, was mit ihr in der fernen Stadt passierte. Sie wurde dort verändert, und sie wurde uns auch fremd. Selbst mir, ihrer Mutter. Ich habe sie davor gewarnt, den Weg weiter zu gehen, aber sie hat nicht auf mich gehört, und das finde ich schlimm. Jetzt muss sie die Folgen dafür tragen.«
»Wir wissen es nicht!«, rief der Pfarrer zurück.
»Hat sie nicht vom Teufel gesprochen, als sie uns zuletzt besuchte? Ist sie uns nicht allen so schrecklich fremd geworden? Und waren wir fast schon entsetzt, dass sie hier in Blackwater begraben werden sollte? Haben Sie uns nicht gesagt, Herr Pfarrer, dass der Teufel bei uns Einzug gehalten hat? Haben wir nicht darum gebetet, dass er wieder verschwindet?«
»Hör auf!«
»Ja, ich höre auf. Keine Sorge. Aber ich wollte, dass ich gehört werde. Alle sollen es wissen.« Sie lachte und wies in die Runde, indem sie die Arme nach rechts und links ausstreckte. »Denkt daran, nicht nur der Mörder meiner Tochter und ihr Begleiter sind unsere Feinde, auch der Teufel und seine böse Macht stehen uns feindlich gegenüber. Wir haben vergessen wollen, aber das ist falsch gewesen.«
Kevin Archer beugte sich weit über den Kanzelrand. »Bist du jetzt fertig, Sandra Shannon?«
»Ja, das bin ich. Ich habe gesagt, was ich loswerden musste. Wir alle müssen uns auf schwere Zeiten einrichten, das sage ich euch. Es wird nicht einfach werden.«
Der Pfarrer sagte nichts darauf. Er wollte sicherlich die Unruhe abwarten, die sich unter den Menschen ausgebreitet hatte.
Ebby Jackson und ich hatten uns nicht von der Stelle gerührt. Nach diesem Geschehen drehte ich mich um und sah ihn an.
Von einem Häufchen Elend konnte man bei ihm nicht sprechen, aber blass war er schon geworden, und auch sein Gesicht hatte einen starren Ausdruck angenommen.
Als er meinen Blick sah, fühlte er sich bemüßigt, einen Kommentar abzugeben.
Zum Glück
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