1519 - Das Leichenbild
flüsterte er, sodass die Gläubigen nicht aufmerksam wurden.
»Es wird alles noch viel schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe. Viel schlimmer, Sir.«
»Warum?«
Jackson musste erst nachdenken. »Weil Amy - weil sie - ein Geheimnis in sich gespürt hat. Da war etwas, das tief in ihr steckte und von dem ich nichts bemerkt habe. Sie ist in den letzten Monaten ihren eigenen Weg gegangen, und genau darauf hätte ich achten müssen, was ich aber nicht getan habe, weil ich so oft unterwegs gewesen bist. Und so ist sie mir entglitten.« Er schüttelte den Kopf. »Ich begriff meine eigene Frau nicht mehr, Sir.« Er holte tief Luft. »Und jetzt muss ich erfahren, dass sie sich auch hier in ihrer Heimat nicht verstellt hat, als wollte sie noch über ihren Tod hinaus wirken.«
»Das glaube ich auch.«
»Danke, dass Sie der gleichen Meinung sind,«
Für mich war Ebby Jackson im Moment nicht wichtig. Es passierte zudem etwas, was mich schon überraschte. Vor allen Dingen deshalb, weil es hier in der Kirche geschah.
Das Kreuz an meiner Brust erwärmte sich.
In der letzten Zeit war ich trotz des Geschehens recht locker gewesen.
Das änderte sich nun schlagartig. Plötzlich spürte ich die Spannung in mir.
Ich warf wieder einen Blick auf die Kanzel, wo der Pfarrer in einer ungewöhnlichen Haltung stand. Er hatte sich etwas zurückgelehnt und schaute schräg gegen die Decke. Seinen Blick sah ich nicht, doch bei dieser Haltung ging ich davon aus, dass er Angst hatte.
Nur wovor?
Die Warnung meines Kreuzes blieb. Und wenn Archer Angst hatte, dann konnte es nur bedeuten, dass er mehr sah als ich.
Eine für eine Kirche völlig fremde Atmosphäre hatte sich in der Kirche ausgebreitet. Eine Stille, die spannungsgeladen und abwartend war.
Ich war in der Zwischenzeit vorgegangen und hatte die Nische verlassen.
Es passierte urplötzlich, ohne Vorwarnung, und es war ein Schock für uns alle.
Durch das Kirchenschiff hallte das gellende Lachen einer Frauenstimme.
Und es wehte noch als Echo zwischen den Mauern, als ich den schrillen Kommentar Ebby Jacksons hörte.
»Da lacht meine tote Frau…«
***
Vielleicht war ich der einzige Mensch, der sich nicht sonderlich überrascht zeigte.
Der Pfarrer und die übrigen Anwesenden reagierten entsprechend. Die meisten duckten sich, als wären sie von Peitschenschlägen getroffen worden.
Der Pfarrer war erstarrt. Er blieb in einer schiefen Haltung auf seiner Kanzel stehen und wusste nicht, wohin er schauen sollte.
Ich bewegte nur meine Augen, suchte nach der Frau, die gelacht hatte.
Aber es war kein weiblicher Zombie aus dem Grab geklettert, der uns diese Botschaft übermittelt hätte. Die Stimme war aus dem Unsichtbaren erklungen.
Für einen Moment drehte ich mich um, weil ich nach Ebby Jackson schauen wollte.
Der stand wie angenagelt auf seinem Platz und wirkte zugleich wie jemand, der auf dem Sprung ist. Aber er stieß sich nicht ab, er war einfach zu geschockt, und als ich ihm zuflüsterte, weiterhin ruhig zu bleiben, nickte er nicht mal.
Aber die Stille blieb nicht. Wieder war es Sandra Shannon, die eingriff.
Eine Mutter wird ihr Kind nie vergessen, auch wenn es im Grab liegt, und so war es hier auch.
Sie schoss von ihrer Bank in die Höhe und kreischte: »Das war sie! Das war das Lachen meiner toten Tochter! Glaubt mir, ich kenne Amy, sie hat oft so gelacht!«
»Amy ist tot!«, rief ein Mann. »Und das ist auch gut so! Sie hat Unrecht begangen…«
»Hör auf, Sanders, du hast hier nichts zu sagen! Deshalb halte dich zurück.« Sandra Shannon schüttelte wild den Kopf. Dabei wandte sie sich an den Pfarrer.
»Hast du es auch gehört, Kevin Archer?«
Er nickte nur.
»Und was sagst du?«
»Ich kann es mir nicht erklären.«
»Ach, kannst du nicht? Hast du uns nicht gesagt, dass sie so etwas wie ein Opfer ist und auch ein Opfer für uns alle gebracht hat? Oder habe ich das falsch verstanden?«
»Das hast du.«
»Nein!«, rief sie mit schriller Stimme. »Das habe ich nicht! Aber du wolltest stärker als der Teufel sein. Du wolltest ihm deine Macht beweisen und hast es nicht geschafft, denn was da passiert ist, das siehst du jetzt. Oder hast es gehört. Das Grab ist nicht das Ende, zumindest nicht für meine Tochter, und ich weiß, dass sie noch immer irgendwo bei uns ist. Ihr Bild verschwand, aber nicht sie. Und wir alle werden noch von ihr zu hören bekommen, das steht fest.«
Der Mann, der neben Sandra Shannon saß, zog sie wieder zurück auf den Sitz. Sie hatte
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