1519 - Das Leichenbild
musste nicht mal mit lauter Stimme sprechen. In der Kirche gab es Hall genug.
»Geht nach Hause! Hier gibt es nichts mehr zu sehen. Mein Name ist John Sinclair. Ich bin einer der beiden Fremden, von denen euer Pfarrer gesprochen hat. Geht in eure Häuser. Was jetzt noch geschieht, ist nicht mehr eure Sache.«
Es kam mir vor, als hätten die Menschen nur auf derartige Worte gewartet. Niemand von ihnen widersprach mir. Es gab keine Panik. Sie beeilten sich, die langen Bänke zu verlassen, und bewegten sich mit schnellen Schritten dem Ausgang entgegen.
Nur einer blieb noch in der Kirche. Seine Gestalt malte sich im Hintergrund nahe der Tür ab, aber Ebby Jackson wollte auf Nummer sicher gehen und verschwand wieder in der Nische, wo er nicht so leicht entdeckt werden konnte.
Vom Boden her hörte ich die schweren Atemzüge des Geistlichen. Er hatte es geschafft, eine andere Haltung einzunehmen. Er lag nicht mehr, sondern saß und stützte sich mit dem Rücken an der Innenseite der Kanzelwand ab.
Als ich mich zu ihm hinabbückte, drehte er seinen Kopf ein wenig und schaute mich an.
»Der Teufel, Mr Sinclair, der Teufel hat mich in der Gestalt eines Totengeistes besucht. Ich habe ihn gespürt. Er war an und in mir, und ich habe Blut gespuckt.«
»Ja, das sah ich.«
»Und Sie haben ihn vertrieben.«
»Zumindest für den Augenblick.«
Kevin Archer lachte. »Ja, da haben Sie völlig recht. Für den Augenblick konnten Sie ihn vertreiben. Aber er wird zurückkehren, denn der Teufel kann nicht besiegt werden. Nicht in der heutigen Welt. Wir können ihn nur abwehren, und das habe ich versucht.«
Den letzten Satz merkte ich mir. Dann streckte ich ihm meine Hand entgegen.
»Was wollen Sie?«
»Ihnen aufhelfen.«
»Und dann?«
»Werden wir weitersehen.«
Archer schüttelte den Kopf. »Sie - Sie - wollen uns doch nicht verlassen, Mr Sinclair?«
»Warum sollte ich?«
»Weil sich der Teufel diesen Ort ausgesucht hat. Er ist so raffiniert. Ich habe es den Gläubigen immer gepredigt. Viele Menschen denken, dass der Teufel besiegt ist, aber das ist er nicht. Er ist nach wie vor da. Und er nutzt aus, dass man nicht mehr an ihn glauben will. Das ist seine große Chance.«
»Ich weiß es, Mr Archer.«
»Und trotzdem wollen Sie bleiben?«
»Ja, warum nicht? Ich stelle mich dem Teufel. Es könnte sogar sein, dass ich seinetwegen zu Ihnen nach Blackwater gekommen bin. Aber darüber müssen wir noch reden. Lassen Sie sich endlich aufhelfen.«
»Ja, das ist schon okay.«
Ich zog ihn auf die Beine. Gekrümmt und zitternd stand er vor mir. Von seiner einst so aufrechten Haltung war nichts mehr zu sehen. Er wollte auch nicht nach unten in seine Kirche schauen, und ich fragte ihn, wo er wohnte.
»Wollen Sie mit mir dorthin?«
»Ich denke, dass es so am besten ist.«
»Gut, wir brauchen nicht weit zu gehen. Meine Wohnung befindet sich in einem kleinen Anbau an der Rückseite der Kirche.«
»Dann kommen Sie.«
»Und weiter?«
Ich lächelte ihn an. »Alles Weitere wird sich ergeben, Mr Archer. Da bin ich mir sicher.«
Er schaute mich skeptisch an. »Aber ich weiß nicht, ob ich mir sicher sein kann.«
»Das ist Ihre Sache. Aber Sie werden nicht allein sein wollen - oder?«
Er wischte über seine Augen und gab erst danach die Antwort. »Nein, Mr Sinclair, es ist mir schon lieber, wenn Sie bei mir sind. Sie scheinen sich vor dem Höllenherrscher wohl nicht zu fürchten?«
»Wie man es nimmt. Sägen wir so, ich hatte schon des Öfteren mit ihm zu tun.«
»Und Sie leben noch?«
»Ja, warum nicht?«
Er lachte. »Ein Mensch, der sich dem Teufel stellt und noch am Leben ist! Ich fasse es nicht, aber ich werde Ihnen glauben, denn es bleibt mir nichts anderes übrig. Ich habe mich hier wohl übernommen.« Er nickte und flüsterte: »Ja, lassen Sie uns gehen. Das ist wohl am besten. Der Teufel muss bekämpft werden.«
Der Meinung war ich auch. Aber ich musste mehr darüber wissen, wie er sich hier gezeigt hatte. Da würde mir der Pfarrer wohl die entsprechenden Antworten geben können.
Für mich war es kein Problem, die gewundene Treppe nach unten zu gehen. Das sah bei Kevin Archer anders aus. Seine Beine waren sehr zittrig, und er konnte froh sein, dass ich an seiner Seite war und ihn stützte. Mit der rechten Hand hielt er sich am Geländer fest, links hakte er sich bei mir ein. Er sagte auch nichts mehr. Unser Weg nach unten wurde nur von seinem keuchenden Atem begleitet.
Am Fuß der Treppe angelangt, stellte ich fest,
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