1519 - Das Leichenbild
sich völlig verausgabt. Jetzt erfolgte die Reaktion. Sie erlitt einen Weinkrampf.
Man musste kein großer Rater sein, um zu wissen, dass wir falsch gedacht hatten. Auch Ebby Jackson und ich. Mit Amy war etwas passiert, das noch nicht sein Ende gefunden hatte.
»Da kommt noch etwas auf uns zu, Sir, das spüre ich«, flüsterte Ebby Jackson, »und ich muss zugeben, dass ich eine verdammte Angst habe.«
»Bitte, Ebby, beruhigen Sie sich. Es kommt alles in die Reihe, glauben Sie mir.«
»Wann denn?«
»Wir werden es gemeinsam in die Hände nehmen.«
»Sollen wir einen lachenden Totengeist suchen?«
»So ähnlich.«
»Nein, das kann ich nicht glauben.« Er trat jetzt neben mich. »Oder doch?«, flüsterte er.
»Sie wird sich wieder melden«, sagte ich mit leiser Stimme. »Das ist hier noch nicht beendet.«
»Und warum fliehen die Leute nicht?«
»Ich weiß es nicht. Es kann sein, dass sie der Kirche noch immer vertrauen und sich in ihren Mauern sicher fühlen. Und das weiß auch die Gegenseite.«
Möglicherweise war es Glück, Zufall oder auch nur langjährige Erfahrung, so genau wusste ich es nicht, aber es passierte schon etwas, denn plötzlich bewegte sich der Pfarrer, der bisher so starr auf seiner Kanzel gestanden hatte.
Warum duckte er sich?
Warum wich er zur Seite?
Weshalb riss er die Arme hoch? Um sich vor etwas zu schützen?
Es gab bei ihm Probleme, das sahen alle, und zwei, drei Sekunden später tauchte er ab und war hinter der steinernen Kanzelmauer verschwunden.
»Was hat der Pfarrer, Sir?«, flüsterte Jackson.
»Keine Ahnung.«
Alle Anwesenden hörten ihn plötzlich schreien. Und das war für mich das Signal, loszurennen…
***
Um die Kanzel auf dem schnellstmöglichen Weg zu erreichen, musste ich durch den Mittelgang zwischen den beiden Bankreihen laufen. Und ich lief nicht, ich rannte. Auf dem Steinboden hinterließen meine Schritte harte Echos, die mich begleiteten. Die Gläubigen auf beiden Seiten sahen meine Aktion natürlich. Aber zum Glück griff keiner ein, der mich stoppen wollte, und so hetzte ich den Mittelgang weiter, bis ich mich nach links wenden musste, um die dicke Säule zu erreichen, an der die Kanzel befestigt war. Eine graue Steintreppe führte als Wendel in die Höhe. Auf dem kurzen Weg dorthin hörte ich immer noch die Schreie des Pfarrers. Ich nahm die letzte Kurve und sah, was auf der Kanzel passiert war. Der Pfarrer lag auf dem Boden. Er hatte die Beine angezogen und schlug mit beiden Händen um sich, ohne dass ich dabei einen Gegner sah. Aber er musste ihn spüren, sonst hätte er sich nicht so verhalten. Der Pfarrer litt. Er keuchte. Er schleuderte seinen Kopf von einer Seite zu anderen. Manchmal drangen auch blubbernde Laute aus seinem Mund, und plötzlich sah ich, dass er Blut spuckte. Ein Klumpen landete vor meinen Füßen. Genau in dem Augenblick, als ich es geschafft hatte, mein Kreuz hervorzuholen. Mir war klar, dass ich es mit einem unsichtbaren Feind zu tun hatte, und musste damit rechnen, dass auch ich angegriffen wurde. Ich schwenkte das Kreuz über die Gestalt des Pfarrers hinweg. Ob er meine Aktion mitbekam, sah ich nicht, aber wichtig war die andere und unsichtbare Seite. Sie spürte es schon. Immer wieder blitzte das Kreuz auf. Und jedes Mal, wenn das geschah, hörte ich den leisen Schrei. Ob vor Wut oder vor Schmerz, war nicht festzustellen, jedenfalls malträtierten die Schreie meine Ohren, und ich erlebte, dass es weiterging. Etwas war zu sehen, und es schien nach dem Zufallsprinzip zu geschehen. Immer dann, wenn ich das Kreuz in eine bestimmte Richtung schwang und dabei etwas traf, wurde es für einen Moment sichtbar. Ein Gesicht, ein Körper. Oder zumindest Teile davon. Ich hatte das Foto von Amy Jackson noch in guter Erinerung, und was ich jetzt immer wieder für winzige Augenblicke sah, war das Gesicht der Toten, allerdings sehr verzerrt. Wie bei einem Menschen, der sich in seinen Aktionen gestört fühlt.
Von einem Augenblick zum anderen war nichts mehr vorhanden. Kein Gesicht mehr, auch keine Ausschnitte eines Körpers. Die Normalität war zurückgekehrt, denn auch mein Kreuz gab keine Wärmestöße mehr ab und auch keine Lichtblitze.
Vorbei war der Angriff!
Der Pfarrer lag auf dem Kanzelboden und wimmerte leise vor sich hin.
Im Moment brauchte ich mich nicht um ihn zu kümmern, aber ich nahm seinen Platz ein und winkte mit beiden Armen den Gläubigen entgegen, unter denen es niemanden gab, der nicht zu mir hoch geschaut hätte.
Ich
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