1519 - Das Leichenbild
gab Sandra zu.
»Ja, sie wurde hier begraben. Alles gut und schön. Man hat ihre Leiche überführt. Man hat sogar ihren Mörder ins Zuchthaus gesteckt, aber ich habe auch nicht die Zeiten vergessen, als sie noch lebte und uns besuchte.«
»Bitte, Gerry, hör auf damit.«
»Nein.« Er nahm noch einen Schluck Gin. »Auch wenn wir heute Sonntag haben, ich werde darüber reden. Der Sonntag ist sowieso entweiht worden.« Er stellte die Flasche wieder weg und blies seiner Frau die Ginfahne entgegen. »Sie war bei uns, und du hast ihre Veränderung ebenso bemerkt wie ich, Sandra. Sie ist den falschen Weg gegangen. Die Großstadt, die große Sünde, hat sie verdorben. Alles, was sie bei uns gelernt hat, das hat sie vergessen. Oder es ist aus ihrem Kopf herausgerissen worden. So müssen wir das sehen und nicht anders.«
»Das will ich aber nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil ich Angst davor habe. Schreckliche Angst. Wir haben ja mit dem Pfarrer darüber gesprochen. Aber nun will ich mit alldem nichts mehr zu tun haben, hast du begriffen?«
»Ohne Zweifel, das habe ich. Und ich bin zudem derjenige, der die richtigen Schlüsse gezogen hat.«
»Darf ich dich etwas fragen, Gerry?«
»Kannst du.«
»Glaubst du wirklich daran, dass unsere Tochter tot ist? Ich meine, so richtig tot?«
Gerry Shannon bewegte kauend seinen Mund, ohne dass er etwas aß.
Dann lachte er, was mehr einem Laut der Verlegenheit gleichkam. »Ja, sie lebt nicht mehr.«
»Ist sie denn tot?«
»Hast du sie denn nicht selbst im Grab liegen sehen? Du ebenso wie ich.«
»Das ist wohl wahr. Ich habe auch genug Tränen vergossen. Es war schlimm für mich. Aber ich weiß auch, dass sie nicht die Ruhe hat, die sie haben müsste. Denn sie war es, die in der Kirche so laut gelacht hat. Es war ihr Lachen, wir kennen es doch. Wir werden es niemals vergessen. Nun möchte ich dich noch mal fragen, ob du daran glaubst, dass Amy tot ist.«
Gerry Shannon schlug mit der Faust auf den Küchentisch. »Ja, verflucht, ich glaube es, ich muss es glauben. Aber ich weiß es nicht. Bist du damit zufrieden?«
Sandra nickte. »Für den Augenblick schon. Aber es kann uns nicht befriedigen.«
»Das stimmt.«
»Und was können wir tun?«
Gerry Shannon staunte seine Frau an. »Willst du überhaupt etwas tun? Oder sollen wir es nicht dabei belassen?«
»Wärst du denn damit zufrieden? Möchtest du nicht auch die reine Wahrheit erfahren?«
»Ja. Aber ich habe auch Angst davor. Hier passiert etwas, Sandra, das ich nicht nachvollziehen kann. Ich weiß gar nichts mehr. Ob Tod oder Leben. Es gab früher für mich eine Trennung wie für jeden Menschen, doch die ist jetzt aufgehoben. Ich komme mit den Dingen nicht mehr zurecht.«
»Und der Pfarrer?«
Gerry musste lachen. »Der kann uns auch nicht helfen. Hast du gesehen, wie er sich verhalten hat? Wie er es nicht schaffte, sich auf seiner Kanzel zu wehren?«
»Ja, das habe ich.«
»Dann weißt du auch, dass er uns nicht helfen kann. Der ist ebenso gefangen wie wir. Hier liegen die Dinge nicht mehr so, wie wir sie von klein auf kennen. Es hat sich einiges verändert, und das ist verdammt schade.«
Sie nickte und fing an zu weinen. Mit dem Kleiderärmel wischte sie das Tränenwasser aus den Augen. »Vielleicht hast du recht, Gerry. Vielleicht steht unsere Welt wirklich vor dem Kollaps, dem Ende, und hier in Blackwater fängt es an. Dabei kenne ich keinen anderen Ort, in dem so fromme Menschen leben wie hier. Wir haben uns an die Gebote gehalten, und was ist der Lohn dafür?«
»Denk nicht darüber nach.«
»Aber ich kann nicht anders. Es geht mir immer durch den Kopf. Es war mein Leben, ebenso wie Amy ein Teil davon war. Und was haben wir jetzt? Der Teufel hat sich auf seine Weise gezeigt, und das ist einfach furchtbar für mich.«
»Ich weiß es, und bitte, Sandra, wir sollten uns unser Leben dadurch nicht zerstören lassen.«
»Ist es nicht schon zerstört?«
»Ich glaube nicht. Ich will es auch nicht glauben, ganz bestimmt nicht. Es ist nur so etwas wie eine Durststrecke, die wir durchmachen müssen, und es muss uns gelingen, uns von dem Gedanken zu befreien, dass unsere Tochter, die wir begraben haben, noch lebt.«
»Das ist so einfach gesagt.«
»Aber zugleich wirkungsvoll, denke ich.«
»Wenn du meinst.«
Sie schwiegen beide. Und dieses Schweigen zeigte auch ihre Unzufriedenheit an. Sie wussten nicht weiter. Denn etwas, das sie nicht begreifen konnten, war wie ein Sturmwind über sie gekommen, um sie aus dem
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