1521 - Der nächste bist du, Sinclair!
schaffen.
Noch hatte keiner von uns gesprochen, und ich sah nicht ein, dass ich als Erster das Wort übernahm. Sie stand oben, sie schaute herab, aber sie sah nur mich, denn Glenda hielt sich zwischen den beiden Fenstern im toten Winkel auf.
Ein wenig veränderte Leonore ihre Haltung. Sie baute sich breibeiniger auf und stellte das Schwert mit der Spitze zu Boden. So hatte sie die Pose einer Siegerin angenommen, und nichts anderes wollte sie auch sein.
»John Sinclair…«
Selten zuvor war ich jemandem begegnet, dem mein Name mit einem derart verächtlichen Ton über die Lippen gekommen war wie ihr. Da kam mir schon der Vergleich mit Asmodis in den Sinn.
»Ja, ich bin hier.«
»Ich schaue auf dich nieder, du verfluchter Verräter.«
»Ach ja? Wieso das?«
»Du hast gedacht, mir entkommen zu können. Du hast auf die Zeit gesetzt, aber du hast dich verrechnet. Mir entkomm niemand, und ich kann dir versichern, dass ich meine Versprechen bisher immer gehalten habe. Im Gegensatz zu dir, verfluchter Hundesohn.«
Sie hatte mir die Sätze wie eine Anklage entgegengeschleudert, und ich hatte auch jedes Wort verstanden, nur mit dem Begreifen hatte ich meine Probleme.
Wieder hatte es sich angehört, als würde sie mich genau kennen, und das brachte mich schon etwas durcheinander, denn ich kannte diese Person nicht. Da konnte ich noch so intensiv nachdenken, ich geriet nicht mal in die Nähe einer Erkenntnis.
»Ich habe nicht versucht, dir zu entkommen, weil ich dich gar nicht kenne.«
»Tatsächlich nicht?«
»So ist es.«
Sie trat einen Schritt vor und blieb auf der obersten Stufe stehen. »Du lügst schon wieder, John Sinclair, wie du dich jetzt nennst. Aber das bringt dir nichts. Ich will, dass du dein Versprechen endlich einlöst, auch wenn noch so viel Zeit vergangen ist.«
Wieder hatte ich etwas gehört, was mich dem Ziel zwar näher brachte, was ich aber nicht verstand.
Sie hatte von einem Verräter gesprochen, sie hatte sogar meinen Namen infrage gestellt.
»Was willst du von mir?«, fuhr ich sie an.
»Ich will, dass du dein Versprechen einlöst.«
»Und wie lautet das?«
Sie stieg erneut eine Stufe herab. »Tu nicht so, als hättest du es vergessen. Und wenn du es mir nicht freiwillig gibst und somit dein Versprechen einlöst, werde ich es mir holen.«
»Verdammt, was willst du dir holen?«
»Dein Kreuz!«
Jetzt war es heraus, und ich glaubte, mich verhört zu haben.
Ich stand da wie vom Blitz getroffen und als wäre ich taub vom Donner.
In meinem Kopf hatte sich eine Leere ausgebreitet, die ich nicht begriff.
Es war zwar keine Welt für mich zusammengebrochen, doch mit dieser Forderung kam ich einfach nicht klar.
Ich war sonst nie auf den Mund gefallen, aber in diesem Moment fiel es mir sehr schwer, die richtigen Worte zu finden. Ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern, einer fremden Person mein Kreuz versprochen zu haben, und musste plötzlich lachen, bevor ich ihr antwortete.
»Ich habe dir kein Kreuz versprochen, Leonore.«
»Doch, das hast du!«
»Wir kennen uns nicht mal.«
»Ja«, flüsterte sie, »und ob wir uns kennen, Sinclair. Wir kennen uns sogar sehr gut, darauf kannst du dich verlassen. Gut und auch intim, mein Freund.«
»Du verwechselst mich.«
Sie ging wieder einen Schritt vor und stoppte auf der nächsten Stufe.
»Ich verwechsle dich nicht, Sinclair. Du hast mir damals dein Kreuz versprochen.«
»Niemals!«
»Ich wusste nicht, dass du so vergesslich bist.«
»Nein, das bin ich nicht.«
»Doch das bist du. Aber ich habe alles sehr gut behalten. Ich habe deine Versprechungen immer noch im Ohr, und ich habe dich bisher für einen Ehrenmann gehalten, Hector de Valois…«
***
Ich kam mir vor wie jemand, dem man kaltes Wasser über den Kopf gegossen hatte und der die anschließende Gänsehaut auf seinem Rücken nicht mehr weg bekam.
In meinem Kopf steckte noch immer die Leere, die sich gegen ein Begreifen stemmte, aber taub war ich nicht, und so hatte ich den Namen genau verstanden.
Hector de Valois!
Natürlich kannte ich diesen Namen, denn dieser Hector de Valois war ich früher einmal gewesen, in einem anderen Leben vor meiner Wiedergeburt als John Sinclair.
Und dieser Hector de Valois war auch der Besitzer des Kreuzes gewesen, das sich jetzt in meiner Hand befand. Es war auf Umwegen an mich weitergeleitet worden, und wer es später nach meinem Tod einmal bekommen würde, wusste ich natürlich nicht. Aber Hector de Valois hatte es besessen. Er
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