1528 - Metamorphosen des Geistes
zählte nur die Tatsache, daß Xan der Lichtung heute noch keinen Besuch abgestattet hatte.
Das bedeutete, daß er ohne Frühstück geblieben war.
Ein hungriger Punamer war stets auch ein wütender Punamer.
Für Xan galt das doppelt.
Sie standen sich gegenüber, regungslos, in diesem plötzlich so still gewordenen Wald, und starrten sich an.
Dancing Tree wagte nicht einmal zu blinzeln. Er wußte, daß ihm nur eine einzige Chance blieb: Wenn Xan sich in Bewegung setzte, maßte er sich zur Seite werfen und schießen.
Und natürlich auch treffen.
Aber das war seine geringste Sorge.
Xan blinzelte. Seine großen, schweren Augenlider senkten sich - ganz langsam.
Der Punamer stand auf allen vieren, Hände und Füße fest in das welke Laub gestemmt. Trockene Blätter hingen in seinem Fell.
Er hat geschlafen, dachte Dancing Tree überrascht.
Ein seltsamer Gedanke - nicht gerade beruhigend. Xan mußte da drüben in der Mulde gelegen haben, nur notdürftig mit ein paar Blättern zugedeckt.
Er hatte kein Schlafnest gebaut.
Das war ungewöhnlich - oder etwa nicht?
Was wußte er denn schon über die Schlafgewohnheiten dieses Riesen?
Xan ließ schon im Wachzustand niemanden an sich heran. Ihn im Schlaf zu stören, ihm auch noch nachzuspüren, wenn er auf der Suche nach einem ruhigen Platz war, das wäre lebensgefährlich gewesen.
Aber der Terraner hatte immerhin doch einiges über die Schlafgewohnheiten der Punamer herausgefunden.
In der ersten Phase ihrer Nachtruhe dösten sie nur, betrieben im Schutz ihrer Schlafnester Körperpflege und knackten Ungeziefer. Gegen Mitternacht verfielen sie in tiefen Schlaf - in dieser Zeit konnte man an sie herankommen, aber es war nicht ratsam, es zu versuchen, denn jedes ungewohnte Geräusch konnte sie aufwecken, und dann reagierten sie äußerst heftig. Gegen Morgen dösten sie wieder nur.
Warum hatte Xan nicht schon viel eher reagiert?
Dancing Tree war direkt am Rand der Mulde entlanggegangen. Er hatte den Punamer gar nicht bemerkt. Xan hätte ihn mit einem einzigen Schlag erledigen können.
Warum hatte er es nicht getan?
Der Punamer verlagerte das Gewicht seines Oberkörpers vom linken auf den rechten Arm.
Jetzt? fragte sich Dancing Tree.
Aber er griff noch immer nicht nach der Waffe.
Xan war Linkshänder - Dancing Tree wußte das.
Er hatte viele Stunden damit verbracht, diesen Punamer zu beobachten. Er hatte Sonden hinter ihm hergeschickt. Er war ihm im Schutz eines Deflektorfelds nachgeschlichen und hatte bei dieser Gelegenheit festgestellt, daß die Punamer sehr scharfe Sinne hatten und keineswegs nur auf ihre Augen angewiesen waren.
Diese Erkenntnis hätte ihn um ein Haar das Leben gekostet.
Und dennoch: Jetzt zahlten sich die Risiken aus - ironischerweise nicht so sehr für Dancing Tree, sondern in erster Linie für Xan.
Dancing Tree hätte ihn in diesem Augenblick töten können, denn er wußte, daß Xan beide Hände benutzte, um sich zum Sprung abzustoßen. Wenn er sein Gewicht verlagerte, war er sich vielleicht noch nicht schlüssig darüber, wie er den Angriff durchführen sollte.
Dieses Zögern konnte für Dancing Tree den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten. Xan war noch verschlafen, noch nicht ganz da, und Dancing Tree war kein potentieller Selbstmörder.
Trotzdem zögerte er immer noch.
Irgend etwas in der Art und Weise, wie der Punamer sich bewegte, war anders als sonst. Und es waren nicht nur die Bewegungen. Es lag auch an seinem Blick.
Da war etwas in den Augen des Punamers - ein Ausdruck, den der Terraner bei diesem Wesen noch nie gesehen hatte: Verwunderung, Erstaunen.
Keine Spur von Aggression.
Und wenn er sich irrte?
Dann würde dies Dancing Trees letzter Irrtum sein.
Xan hob die linke Hand und wischte sich damit über das Gesicht. Diese Bewegung wirkte unsicher. Dann richtete der Punamer sich auf, sehr langsam, beinahe schwankend. Schließlich stand er aufrecht vor dem Terraner, breitete die Arme aus, sank langsam nach vorne ...
Schieß doch endlich! dachte Dancing Tree, aber er tat es nicht.
Xan kam wieder auf den Boden herab. Er bekam einen Ast zu fassen und zerbrach ihn zwischen den Fingern.
Dann schnaufte er verächtlich, drehte sich um und ging davon.
Dancing Tree sah ihm nach und wunderte sich darüber, daß sie alle beide noch immer am Leben waren.
Als Xan außer Sichtweite war, kam Ivy herabgeturnt. Sie stürzte sich auf den Terraner und klammerte sich an ihm fest, als wollte sie ihn nie wieder loslassen.
Nach
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