1533 - Ende der Sonnenzeit
meisten Männer und Frauen der Aufforderung gefolgt waren. Sogar einige der Kinder hatten die Wohnwaben verlassen, wurden von ihren Müttern aber zurückgeschickt. Ihnen war es nicht erlaubt, an den Beratungen der Erwachsenen teilzunehmen.
Katlat hockte in seiner Hängematte und schaukelte darin hin und her. Er schien sich seiner Sache sehr sicher zu sein.
Saprin erkannte, daß sie ihn haßte. Sie hatte ihn nicht gemocht, bisher aber hatte sie sich nie mit ihm auseinandersetzen müssen. Erst ihr eigensinniges Experiment, während der Sonnenzeit nach draußen zu gehen, hatte sie in seine Nähe gerückt.
Sie mußte an den abergläubischen Reyton denken und blickte nach unten. Wie nicht anders zu erwarten, war ein Eiskriecher aus einer der Felsspalten hervorgekommen, hatte sich auf den Toten gestürzt und zerrte ihn nun davon.
Saprin erschauerte beim Anblick des Tieres. Es war ein großer, weißer Wurm, der fünf Fangarme am Kopfende hatte. Mit ihnen hatte er Reyton ergriffen. Rückwärts kriechend brachte er seine Beute in Sicherheit. Einige Frauen warfen Steine nach ihm, doch sie prallten wirkungslos an seinem gepanzerten und mit Höckern versehenen Rücken ab. Der Eiskriecher verschwand mit seiner Beute in einem Felsspalt, und damit erlosch auch das Interesse der Rarapetsch. Die Männer und Frauen wandten sich dem Magier zu, der geduldig in seiner Hängematte gewartet hatte. „Die Stunde ist gekommen, in der wir um unsere Welt kämpfen werden", begann Katlat mit lauter Stimme. „Sorbat ist unsere Welt. Sie gehört uns allein. Wir können nicht länger dulden, daß die Cryer uns um den Reichtum unserer Welt bringen. Wie ihr alle wißt, haben sich schon unsere Ahnen gegen die Cryer erhoben. Sie haben große Siege errungen, ohne aber die Fremden von unserer Welt vertreiben zu können."
Das entsprach der Wahrheit. Saprin erinnerte sich gut an die Zeit ihrer Ausbildung, die in einer anderen Höhle stattgefunden hatte. Ihr Lehrer hatte ihr und den anderen Schülerinnen in den Stein gemeißelte Bilder von dem großen Kampf gegen die Cryer gezeigt. Sie hatte nur einen vagen Zeitbegriff, hatte aber immerhin begriffen, daß selbst die Ältesten ihres Stammes noch nicht gelebt hatten, als der Kampf ausgetragen worden war. „Unser Kampf wird mit einem überwältigenden Sieg enden", versprach Katlat. „Wir werden die Kaltzeit von der ersten Stunde an nutzen. Wenn die Cryer noch damit beschäftigt sind, sich in ihre Häuser zurückzuziehen, greifen wir an. Wir werden sie überraschen und danach nicht zur Ruhe kommen lassen, bis auch der letzte von ihnen tot ist. Bevor es jedoch soweit ist, müssen wir einen neuen Häuptling wählen."
Er blickte in die Runde. Langsam hob er die Arme. „Ich habe lange darüber nachgedacht, wer der neue Häuptling sein soll", fuhr er dann fort. „Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß es die besondere Lage unseres Volkes erfordert, jemanden zu bestimmen, der schnell entscheiden und unser Volk besser als jeder andere führen kann."
Saprin zog sich in ihre Wabe zurück. Sie ahnte bereits, was kam. Es würde keine Wahl geben, sondern eine Bestätigung. „Es kommt nur einer in Frage", hörte sie den Magier rufen. „Ich!"
Die Männer und Frauen in der Höhle schrien begeistert. Keine wagte, sich dem Magier entgegenzustellen. „Schreiten wir zur Wahl!" schlug Katlat vor.
Saprin seufzte. Sie kroch wieder aus ihrer Wabe hervor, denn sie wußte, daß es ihr Tod gewesen wäre, wenn sie sich nicht an der bevorstehenden Abstimmung beteiligt hätte. Die Rache des Magiers hätte sie früher oder später erreicht.
Sie schämte sich, weil sie es nicht wagte, gegen den Magier zu kämpfen. Sie fürchtete seine unheimlichen Kräfte.
Ihre Gedanken richteten sich auf Rara. Warum half ihr dieses Wesen nicht? Sie allein konnte den Krieg nicht mehr verhindern.
Sie dachte an die dicke Cryerin und ihre beiden Männer. Ihnen gegenüber war sie für Frieden eingetreten, aber sie brachte ihnen den Krieg.
Ich kann ihnen nie wieder unter die Augen treten, dachte sie. Ich habe sie verraten.
Verstohlen blickte sie sich um und musterte die Gesichter der Männer und Frauen in ihrer Nähe.
In fast allen erkannte sie Furcht.
Nur Katlat war sich seiner Sache sicher. Er genoß die Stunde seines Triumphs. Saprin hatte in der Schule gelernt, daß noch niemals ein Rarapetsch gleichzeitig Häuptling und Magier gewesen war. Katlat war der erste.
Er war der mächtigste Mann, den es je auf Sorbat gegeben hatte. Die
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