1540 - Das Drachenriff
Dunkelheit umhergehen mussten.
Sie konnten sich sehen, aber sie sahen sich nur als Schattengestalten.
Gudrun und ihr Partner blieben dicht beisammen, während Purdy sich daranmachte, den unteren Teil des alten Leuchtturms zu durchsuchen und bald vor einer nach oben führenden Wendeltreppe stand, deren Stufen nur schwach oder gar nicht zu sehen waren. Doch über sich erkannte sie einen schwachen Schein, der durch eines der kleinen Fenster fiel.
»Wisst ihr, ob die Treppe bis ganz nach oben führt?«
»Das kann sein«, antwortete Tore. »Ganz oben sind wir noch nicht gewesen.«
»Es wird sich auch nicht lohnen«, meinte Gudrun.
»Kann sein.« Auch Purdy ging die Stufen nicht hoch. Sie begab sich wieder zu dem Paar aus Norwegen.
»Können wir etwas tun, Purdy?«, fragte die junge Frau.
»Das weiß ich nicht. Ehrlich, da bin ich überfragt. Ich denke eher nicht, denn ich glaube nicht, dass sich das Monstrum zurückgezogen hat.«
»Ich öffne die Tür nicht!«, rief Tore.
»Keine Sorge, das verlangt auch keiner. Trotzdem möchte ich es sehen, und das kann ich vielleicht von oben.«
»Lieber nicht, die Treppe kann brüchig sein.«
»Ich weiß. Aber das Risiko muss ich eingehen.«
Purdy ging zur Tür und blieb dort stehen. Sie wollte hören, ob sich draußen etwas tat. Deshalb legte sie ein Ohr gegen die Tür, aber nur das entfernt klingende Rauschen des Meeres drang als die übliche Melodie an ihr Gehör.
Sie kehrte um.
»Nichts, es herrscht eine trügerische Ruhe, will ich mal sagen.«
»Und du willst jetzt hoch?«
»Ja. Gudrun.«
»Dann viel Glück.«
»Danke, das kann ich gebrauchend«
Die Staatsanwältin hatte ihren Optimismus nicht verloren, aber sie gab sich selbst gegenüber zu, dass vieles nur gespielt war. Nie hätte sie sich vorstellen können, dass der Besuch in der Wohnung des Toten so enden würde. Aber noch war sie nicht am Ende, und sie hoffte, dass es irgendwie weiterging.
Die Stufen blieben im Dunkeln, weil Purdy keine Lampe bei sich hatte.
So musste sie sich regelrecht mit den Händen und mit den Füßen vorantasten. Bevor sie eine Stufe mit ihrem Gewicht belastete, prüfte sie zuvor durch einen entsprechenden Druck ihre Festigkeit und ging erst dann weiter nach oben.
Sie hatte sich vorgenommen, bis zum ersten Fenster zu gehen und von dort aus einen Blick nach draußen zu werfen, wobei sie hoffte, dass die Maße des Fensters es zuließen.
Der erste Wendel lag hinter ihr. Noch vier Stufen, dann hatte sie die kleine Plattform erreicht, die wie ein heller Fleck in der Dunkelheit aussah, weil das Licht aus der Fensterluke sie erreichte.
Die Mauern rochen feucht. Durch die Öffnung drang der kühle Wind und strich durch Purdys Gesicht.
Sie hatte Glück. Die Öffnungen befanden sich direkt in der Mauer und bildeten nicht das Ende einer Nische, in die sie sich hätte hineindrängen müssen, um freie Sicht zu haben.
Auch war die Luke groß genug, um den Kopf hindurchstrecken zu können.
Natürlich fiel ihr erster Blick über das Meer, auf dem sie nur die graugrünen Wellen sah. Auch jetzt war kein Boot oder Schiff zu sehen, das sich der Insel näherte.
Sie drückte ihren Körper noch weiter vor, blickte in die Tiefe und erstarrte auf der Stelle.
Unter ihr lauerte das Monstrum!
***
Im Moment tat es nichts. Es lag da, als wollte es sich ausruhen. Ein schuppiges, nasses, grünlich schimmerndes Riesentier, das sich nicht nur im Wasser bewegen konnte.
Es war eine Schlange. Und es war auch ein Drache. Der Kopfteil gehörte zu einer Riesenschlange. Der Körper war breiter und auf seinem Rücken wuchsen mehrere spitze Höcker. Danach verengte sich der Körper wieder und glich wieder mehr dem einer Schlange.
Purdy Prentiss schüttelte den Kopf. So etwas hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Wohl auch nicht in ihrem ersten, denn daran konnte sie sich kaum erinnern. Ihre Gesichtshaut zog sich zusammen, und das kam nicht von der Kälte. Der Anblick des Seemonsters hatte dafür gesorgt.
Um sich die Menschenopfer zu holen, hatte sich die Drachenschlange eine perfekte Ausgangsposition ausgesucht. Sie lag so, dass ihr Kopf auf die Tür wies. Wenn sie geöffnet wurde, brauchte sie nur vorzuschnellen und zuzuschnappen.
Das Leben der Menschen im Turm war zu einem Geduldsspiel geworden. Sie mussten so lange warten, bis die Drachenschlange verschwunden war und sich ins Wasser zurückgezogen hatte.
Aber wann war das?
Wann hatte das Seemonster genug von der Warterei?
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