1549 - Der steinerne Engel
gelungen, ein Kind zu holen. Wir haben die Leiche nie gefunden, aber der Engel existierte weiter. Die Wunden sind vernarbt, aber geheilt wurden sie niemals. Jetzt bist du an der Reihe, und ich bitte dich darum, es besser zu machen als ich.«
»Ja, das muss ich wohl.« Joaquim nickte und hielt dabei die Lippen zusammengepresst.
Er wusste, durch welch eine Hölle sein Vater gegangen war, und sie war noch nicht vorbei. Die Erinnerung würde erst mit seinem Tod erlöschen.
Der alte Mann hatte ihm angeboten, mit ihm zu gehen, aber Joaquim hatte abgelehnt. Er wusste, was er sich, seiner Familie und auch den anderen Menschen schuldig war.
»Ich gehe jetzt, Vater.«
»Gut. Meine Gebete werden dich begleiten.«
Joaquim lächelte. »Und diesmal schaffen wir es. Das verspreche ich dir hoch und heilig. Es wird kein Kind mehr verschwinden. Der Todesengel muss ein für alle Mal vernichtet werden, und ich werde dafür sorgen. Darauf kannst du dich verlassen.«
»Danke, mein Sohn.«
»Wir sehen uns später.«
Der alte Mann schloss das Fenster.
Joaquim wusste sehr gut, welchen Weg er zu gehen hatte. Er musste in den Stall, wo die Schafe standen und die kalten Monate verbrachten. Im Sommer grasten sie an den Hängen und weideten das struppige Gras ab.
Er ging über die Hauptstraße, die den Ort in zwei Hälften teilte. Rechts und links ragten die Berge in die Höhe. Zuerst recht flach, sodass die Almen hatten entstehen können. Wenig später jedoch zeigten sie ihr wahres klotziges und graues Gesicht. Ein Fels, der abweisend war und menschenfeindlich wirkte.
Eigentlich lag Porte nicht in einem Tal, sondern in einer breiten Schlucht, die man auch als eine Wanne hätte bezeichnen können.
Von schönen Hausfassaden konnte hier auch nicht gesprochen werden.
Graue Häuser mit recht kleinen Fenstern. Manche hatten Erker oder Balkone aus Eisen. Jenseits der Straße war nicht mehr viel Platz, aber auch dort hatten Menschen ihre Häuser an die Hänge gebaut bis fast hoch zum Beginn der Felsen.
Es war ein Tag, der durch den blassblauen Himmel verschönert wurde.
Aber es war keine Sonne zu sehen. Man konnte den Eindruck gewinnen, dass das Licht auf dem Weg ins Tal versickerte. Wer hier wohnte, war daran gewöhnt. Wer hier zuziehen wollte, der überlegte es sich zweimal.
Joaquim Moreno wandte sich nach links. Er ging in Richtung Westen und musste fast bis zum Ende des Dorfes laufen, denn dort lag sein eigentliches Ziel.
Der Schäfer wusste Bescheid. Auch er kannte die Spielregeln genau, denn er war einer der ältesten Bewohner hier im Ort. Er wusste, was er dem Schicksal schuldig war, und Joaquim sah ihn schon aus einer gewissen Entfernung vor seinem Stall stehen, um den herum sich eine durch einen Zaun gesicherte Außenweide anschloss.
Vor seinem Gesicht stieg der Qualm einer Pfeife empor, an der er hin und wieder sog.
Die beiden Männer trafen am Zaun zusammen. Der Schäfer nickte Joaquim zu.
»Es ist so weit, nicht wahr?«
»Ja.«
»Hast du die Waffe dabei?«
Joaquim zog sie an seinem Rücken aus dem Gürtel hervor. Der Schäfer besah sich den krummen Dolch und nickte, bevor er sagte: »Den hat dein Vater schon genommen.«
»Ich weiß.«
Die knorrige Hand des Schäfers strich über seinen hellgrauen Stoppelbart.
»Ich hoffe, dass es kein schlechtes Omen ist, mein Freund. Aber das musst du wissen.«
»Sicher.«
»Dann komm.«
Der Schäfer führte Joaquim auf die Stalltür zu. Er ging gebeugt wie jemand, der sonst eine Stütze benutzte und jetzt darauf verzichten musste. Den Stock, den er immer mit auf die Weide nahm, wenn er seine Tiere hütete, hatte er jetzt nicht dabei. Er zog die Tür auf.
Die Schafe im Stall waren bisher ruhig gewesen. Das änderte sich. Sie fingen an zu blöken, sie bewegten sich und versuchten sich in eine Ecke zu drängen. Die Tiere schienen die Gefahr zu spüren, die einem von ihnen drohte.
Moreno war nicht wohl bei seiner Tat. Die Leute hier in der Bergregion waren nicht mit denen in den Städten zu vergleichen. Wenn geschlachtet werden musste, dann wurde auch geschlachtet, aber das hier glich einem alten Blutritual und war nicht als Nahrung für die Menschen vorgesehen.
»Du willst ein Lamm haben?«
»Ja, Paul.«
Der Schäfer nickte. Im Gegensatz zu seinem Besucher war er Franzose.
In dieser Einsamkeit vermischten sich die Völker. Es spielte keine Rolle, wer Franzose und wer Spanier war. Zwar befanden sie sich noch auf der französischen Seite der Grenze, aber Spanier oder auch
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