155 - Kriminalfall Kaprun
wahrscheinlich schwer gefallen. Doch die Optik von Kühschelms Rolle war bei einer Katastrophe, die so viele Menschenleben gefordert hatte, auf jeden Fall schief.
Am nächsten Tag kündigt Kovac in der Redaktionskonferenz einen großen Hintergrundbericht über Kaprun und das Gutachten der Internationalen Kommission an. Danach geht er an seinen Schreibtisch und telefoniert mit dem Verkehrsministerium, das ihm einen kurzfristigen Termin für ein Gespräch mit Kühschelm zusagt.
Dann spricht Kovac mit dem O.I.T.A.F.-Generalsekretär, der ihm verspricht, sich noch heute zu melden, und ruft im Schweizer Verkehrsministerium an. Kovac erkundigt sich nach dem Stand der Technik in der Standseilbahn Saas Fee und den Unterschieden zu Kaprun. Doch der Schweizer Beamte wird schnell einsilbig und muss plötzlich zu einem Termin. Am besten könne Kühschelm über Kaprun und das Gutachten informieren. Dann ist das Gespräch beendet.
Kovac beginnt zu schreiben, recherchiert im Internet weiter, bereitet sich auf das Gespräch mit Kühschelm vor. Am frühen Abend macht er noch einen Abstecher in die Sportredaktion, wo ein alter Freund Geburtstag feiert, mit dem er einst als Volontär angefangen hat. Danach geht er früh zu Bett.
Am nächsten Tag will er nach der Redaktionskonferenz gerade den großen Tisch verlassen, als sein Chef ihn zu sich bittet. »Karli, ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht. Welche willst du zuerst hören?«
»Die schlechte natürlich.«
»Es fällt mir schwer, aber deine Kaprun-Geschichte mit dem Ministerium und dem Kommissionsbericht kann nicht erscheinen. Bitte zwing mich nicht, das jetzt zu diskutieren. Ich weiß, was du sagen willst, und du hast Recht.«
So klang es gewöhnlich, wenn Interventionen erfolgreich gewesen waren. Interventionen bedeuteten nicht unbedingt, dass er ins Schwarze getroffen hätte. Sie konnten auch bedeuten, dass er daneben getroffen hätte und jemand bloß nicht wollte, dass er mit anderen Fakten oder Interpretationen Rauch aufwirbelte, wo kein Feuer war. Zu seinem Job gehörte es aber, an die erste Version zu glauben.
»Und die gute Nachricht?«, fragt er. »Ich darf Urlaub auf einer einsamen Berghütte ohne Strom und Handynetz machen?«
»Du bist der Chefreporter im Kaprun-Prozess, und da redet dir dann keiner mehr drein.«
Als Karl Kovac an seinen Schreibtisch zurückkehrt, liegt dort ein Artikel von Günther Nenning, den ihm jemand hingelegt hat. In seiner Kolumne in der Kronen Zeitung vom 21. November 2000, also elf Tage nach der Kaprun-Katastrophe, war auch Nenning offenbar so betroffen, dass er sich, einem Prozess und dessen Ergebnis vorgreifend, eine satirische Vorverurteilung leistet.
Behördliche Unschuld
Ich habe ja überall meine Spitzel sitzen, die mir aus allerhand Computern geheime Unterlagen zuspielen. So gelangte ich in Besitz einer Dienstvorschrift der Obersten Eisenbahnbehörde, welche für Tunnel und Seilbahnen zuständig ist. Hier der Wortlaut:
§1. Es passiert eh nix .
§2. Passiert doch etwas, ist die Oberste Eisenbahnbehörde daran unschuldig. Dies ist unverzüglich nach jeder Tunnelkatastrophe zu verlautbaren.
§3. Tunnelbau kostet viel Geld. Die Behörde kann nicht verantworten, dass die Tunnelbauer auch noch für die Sicherheit viel Geld ausgeben.
§4. Es genügt ein kleiner roter Feuerlöscher in der Zugführerkabine. Es ist dafür zu sorgen, dass dieser für die Passagiere unzugänglich bleibt, um zu verhindern, dass diese damit Unfug treiben.
§5. Fenster sollen aus hochwiderstandsfähigem Plexiglas bestehen, damit die Passagiere sie nicht einschlagen können.
§6. Türen sollen weder innen noch außen händisch zu öffnende Schnallen haben, damit die Passagiere den Zug nicht unbefugt verlassen können.
§7. Fahrgestelle können ruhig schon ein Vierteljahrhundert alt sein. Es genügt, wenn sie beim nächsten Millennium ausgetauscht werden.
§8. Eine Notbeleuchtung des Tunnels ist nicht notwendig. Die Lichter könnten den Zugführer stören.
§9. Belüftungs- und Sprinkleranlagen sind nicht notwendig. Erstens ist in dem engen Tunnel eh kein Platz, zweitens sind sie teuer.
§10. Der Kamineffekt im aufsteigenden Tunnel soll nicht durch verschließbare Tunneltore behindert werden. Der Zug könnte gegen das Tor anfahren und beschädigt werden.
§11. Rettungsstollen und Schutzräume sind was Schönes, aber zu teuer.
§12. Am teuren Personal ist sorgfältig zu sparen. Es genügt ein Zugführer, der keinen Überblick hat, was
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