155 - Kriminalfall Kaprun
und die Polizeipräsenz erhöhen die Spannung und Unruhe. Die Anwälte der Angeklagten stehen ein letztes Mal im Rampenlicht und treten gemeinsam mit ihren Mandanten auf. Die meisten Verteidiger sind angespannt, auch wenn sie dies routiniert überspielen. Der Ausgang des Kaprun-Prozesses erscheint ihnen offen. Nur ganz wenige glauben, die Entscheidung bereits zu kennen.
Die Nerven der 16 Angeklagten und ihrer Familien liegen blank, der 19. Februar 2004 wird ihr Schicksalstag. Keiner von ihnen weiß, ob sie den Saal schuldig oder als freie Menschen verlassen können, auch wenn es vorsichtige Gerüchte über mögliche Freisprüche gibt. Wie die Angehörigen der 155 Toten und die zwölf Überlebenden auf das Urteil reagieren werden, weiß niemand. Manfred Seiss lässt aufAntrag der Verteidiger zusätzliche Tische zwischen die Sitzreihen der Angeklagten und der Opferfamilien stellen.
Das Urteil kennen zurzeit nur er und vielleicht seine Vorgesetzten. Ein letztes Mal wird der Kaprun-Richter im Blitzlichtgewitter des Kolpinghauses stehen, dann kann er auf einen ruhigeren Gerichtsalltag im Gebäude des Landesgerichts und wohl auch auf eine baldige Beförderung hoffen.
Polizeibeamte des Einsatzkommandos »Cobra« holen ihn in seinem Wohnhaus ab, bringen Seiss in sein Büro im Kolpinghaus und geben ihm den gesamten Tag über Personenschutz. Um zehn Uhr betritt Manfred Seiss den Gerichtssaal. Mit einer Stimme, die Geschäftsmäßigkeit ausstrahlen soll, stellt er den Familien der Opfer von Kaprun polizeiliche Maßnahmen in Aussicht, wenn sie aufgeregt auf seinen Urteilsspruch reagieren und weist auf die anwesenden Polizeikräfte hin. Das klingt nicht gut, denkt Danninger-Soriat.
Von einem Blatt liest er am Richtertisch sitzend ab: »Ich ersuche dringend von Kundgebungen aller Art abzusehen und werde heute (…) Zeichen des Missfallens und der Zustimmung nicht dulden. Die im Saal auch anwesenden Sicherheitskräfte wurden von mir ersucht und angewiesen, Personen, welche durch Zwischenrufe stören et cetera, nach einer Ermahnung aus dem Saal zu verweisen beziehungsweise zu entfernen.«
Die Hinterbliebenen sind betroffen. Mühsam erläutern Übersetzer den Ausländern die gerichtliche Androhung. Als sie verstanden haben, erstarren auch sie. Ungläubig sehen sie den Richter an, der ihnen auch noch diese Kränkung zumutet. Eiseskälte kriecht in ihnen hoch. Dagegen atmen die Anwälte der Angeklagten auf. Eine derartig harte und die Opfer brüskierende Drohung macht nur Sinn, wenn gleich eine Sensation kommt. Und sie kommt wenig später. Seiss spricht mit einem einzigen Satz alle 16 Angeklagten frei.
Atemlose Stille folgt, dann bricht ein Sturm der Entrüstung los. Die Angehörigen schreien ihr Entsetzen hinaus, Väter fluchen, Mütter brechen zusammen, Geschwister und Freunde weinenhemmungslos. Viele halten es nicht mehr im Saal aus und rennen ins Freie, direkt vor die Mikrophone und Kameras der internationalen Medien. Ihre vor Wut und Verzweiflung verzerrten Gesichter gehen um die Welt, ihre Tränen rühren Menschen auf allen Kontinenten.
Verzweifelte Angehörige nach der Urteilsverkündung
Diplomaten ausländischer Vertretungen rufen ihre Botschafter an, die sogleich ihre Regierungen informieren. Journalisten versenden erste, scharfe Kommentare und berichten über verzweifelte Opferfamilien, die angesichts der Ereignisse ebenso ohnmächtig wie zornig sind.
Dass von 16 Angeklagten niemand für den Tod von 155 Menschen verantwortlich sein soll, will keiner glauben. Im Gerichtssaal rufen österreichische und deutsche Väter laut das Wort »Schande«, schreien den Richter an und beschimpfen die Justiz. Die Polizei bringt wütende österreichische Angehörige gegen ihren Willen aus dem Saal. Für die Hinterbliebenen und die Mehrheit der ausländischen Reporter hat die Republik Österreich an diesem Tag aufgehört, ein Rechtsstaat zu sein.
Auf der Anklagebank toben ebenfalls die Menschen, aber anders. Sie fallen sich in die Arme, klatschen sich mit ihren Verteidigern ab und können sich vor Glück kaum halten. Alle sind freigesprochen, niemand hat Schuld. Die Gletscherbahn, die Ministerien, der TÜV , die Firmen Swoboda und Mannesmann-Rexroth haben keine Fehlergemacht. Sie können es offenbar selbst noch nicht fassen, nun sind sie frei und keine Angeklagten mehr.
Überrascht und zufrieden sind naturgemäß auch die Beschuldigtenvertreter, einige halten sich zurück, andere müssen ihre Freude zeigen, einige wenige werfen
Weitere Kostenlose Bücher