155 - Kriminalfall Kaprun
Seilbahnbetreiber, nicht die Konstrukteure, nicht die Beamten im Verkehrsministerium, die alles zu genehmigen hatten – auch nur im Traum daran gedacht, dass es in einer Seilbahn jemals brennen könnte. Deshalb gab es keine Brandschutzvorschriften für Seilbahnen, keine Feuerlöscher, keine Hämmer zum Einschlagen der Scheiben, keine ausreichenden Fluchtwege aus dem 3,3 Kilometer langen Tunnel. Und das alles, betont Brandstetter, entsprach zum Zeitpunkt der Katastrophe dem »Stand der Technik«, jedenfalls soweit es das Seilbahnwesen betreffe. Deshalb könne von einer Fahrlässigkeit im strafrechtlichen Sinn keine Rede sein. Mit dem zivilrechtlichen Prinzip der Gefährdungshaftung habe das nichts zu tun.
Rechtsanwalt Peter Lechenauer vertritt einen Ingenieur der Firma Swoboda, die 1993 die neuen Wagenaufbauten für die GBK hergestellt hat. Ein Werkmeister bei Swoboda hat jenen Heizlüfter des deutschen Herstellers Fakir eingebaut, der den Gutachten zufolge den verheerenden Brand ausgelöst hat. Er weist darauf hin, dass dieses Gerät alle einschlägigen Sicherheitsplaketten trug und mit zwei Thermoschutzschaltern ausgerüstet war. »Der Erwerber muss darauf vertrauen können, dass ein solches Gerät nicht in Eigenbrand geraten kann.« Erst langwierige Untersuchungen hätten an den Tag gebracht, dass ein Produktionsfehler beim Spritzguss des Kunststoffgehäuses für die folgenschwere Panne verantwortlich war.
Wie also, argumentieren die Anwälte, hätten ihre Mandanten, allesamt brandschutztechnische Laien, diese Gefahrenquelle erkennen sollen?
»Wenn das Gefährdungsbild«, sagt der Verteidiger des Betriebsleiters der Gletscherbahnen, »nicht erkennbar ist, dann ist es auch unmöglich, eine Sorgfaltspflichverletzung herzuleiten.«
Am Abend hat sich der Kolpingsaal geleert, der letzte Prozesstag vor der Urteilsverkündung geht zu Ende. Die Staatsanwältin packt die Handakten in ihre Tasche und räumt ihren Tisch auf. Auch Richter Seiss schafft noch Ordnung, weicht ihr aber aus, unterhält sich leise mit Rechtspraktikanten und Gutachtern und schaut unruhig zur Staatsanwältin.
Seiss, die Praktikanten und einige Strafverteidiger treffen einander in einem Salzburger Szenelokal und sind in gehobener Stimmung. Es wird ein fröhlicher Abend mit gutem Essen und Bier, und sie bleiben unter sich. Der letzte Verhandlungstag über die größte Katastrophe der Zweiten Republik klingt in fröhlicher Gemeinsamkeit von Richter, Gutachtern und Strafverteidigern aus.
Kapitel 35
Es ist Donnerstag, der 19. Februar 2004. Nach 59 Prozesstagen soll nun Recht gesprochen werden. Viele Opferfamilien sind angereist, vor allem aus Österreich, Deutschland, Japan und den USA, und sie erwarten einen Schuldspruch. Zu dem erhoffen sich viele ein Schuldeingeständnis der Republik Österreich, deren behördliches Missmanagement ihrer Meinung nach die Brandkatastrophe ermöglichte. Danach wollen sie Ruhe, damit sie ihre private Trauerarbeit in dem Gefühl fortsetzen können, dass die Gründe für den Tod ihrer Lieben objektiv aufgeklärt sind.
Mehr als 70 akkreditierte Zeitungen, Agenturen sowie Radiound Fernsehsender aus Europa, Japan und den USA sind gekommen,um über das Urteil im Kaprun-Prozess zu berichten. Erfahrene ausländische Gerichtsreporter, die über den Prozess zunehmend kritischer informierten, rechnen fest mit Verurteilungen und, wenn überhaupt, nur mit sehr wenigen Freisprüchen. Nur einige altgediente österreichische Journalisten sind auffällig ruhig, sie haben ihren Glauben an eine unabhängige Justiz schon länger verloren und warten routiniert ab. Zu ihnen gehört auch Karl Kovac, der erhebliche Zweifel hat, ob es zu einer einzigen Verurteilung kommt. Staatsanwältin Eva Danninger-Soriat, die nach dem Ausscheiden Anton Muhrs zur alleinigen Zielscheibe der Verteidiger geworden war, geht trotz des Prozessverlaufs von Schuldsprüchen aus, wenn vielleicht auch nicht für alle 16 Angeklagten.
Doch bevor der letzte und entscheidende Gerichtstag beginnt, haben mehr als 50 Polizisten und Mitarbeiter eines privaten Wachdienstes das Kolpinghaus abgeriegelt. Jeder Teilnehmer oder Besucher des Prozesses muss durch eine Sicherheitsschleuse und wird durchsucht. Als Begründung für diesen martialischen Aufmarsch der Sicherheitskräfte werden Gerüchte genannt, dass Hinterbliebene, die mehrmals mit Grablichtern still und traurig im Sitzungssaal gesessen haben, diese auf den Richter werfen könnten.
Der massive Sicherheitsaufwand
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