155 - Kriminalfall Kaprun
erhöhten Risiko, das er nicht verantworten kann. Niemand kann sagen, wie sich der Imageverlust langfristig auswirkt, die Stimmung und die Medienberichterstattung sind zu negativ. So sehr er den Standpunkt der Unternehmensführung teilt, so müsse diese doch auch bedenken, dass unabhängige Gerichtsgutachter zu der Schuldzuweisung gekommen sind. Es waren sogar Professoren darunter, und die können sich doch nicht so fundamental irren.
Heinz Kicherer startet einen letzten Versuch und erinnert an die jahrzehntelange Zusammenarbeit und auch daran, wie viel Geld die Bank an Fakir verdient hat. Niemals haben sein Vater, er selbst oder das Unternehmen Zusagen nicht eingehalten, niemals hat Fakir unseriös gewirtschaftet. Die Antwort bleibt ein hartes Nein. »Suchen sie sich einen Partner«, ist die letzte Empfehlung.
Der Seniorchef verlässt die Bank. Wie oft ist er durch diese Tür gegangen, zuerst mit seinem Vater, dann allein, und hat stets gutes Geld gebracht. Niemals war er von der Bank abhängig. Nur einmal hätte er seine alte Hausbank gebraucht. Jetzt, da sein Unternehmen unverschuldet in Not geraten ist. Gerade da lässt die Bank ihn fallen wie eine heiße Kartoffel.
Zwei Wochen später betreten zwei dunkel gekleidete Herren die Büros. Dann geht alles sehr schnell. Am ersten Juli 2005 übernehmen sie Fakir mit allen Rechten, Patenten, Gebäuden, Maschinen und dem Firmengelände zu einem Spottpreis. Danach »sanieren« sie das Werk, entlassen die meisten Mitarbeiter und verkaufen es später mit hohem Gewinn an türkische Investoren. Heute sind in Vaihingen mehr als 80 Mitarbeiter tätig, das Werk konnte an seinen guten alten Ruf wieder anschließen.
Zu den Opfern des Kaprun-Prozesses zählen somit auch die vielen entlassenen Fakir-Mitarbeiter und ihre Familien. Besonders tragisch wirkt sich das Kaprun-Urteil auf den Firmenchef Heinz Kicherer aus. Als gebrochener Mann muss er mitansehen, wie andere Menschen das Werk zerschlagen und zerstören, das sein Vater aufgebaut und das er erfolgreich weitergeführt hatte. Die grundsolide Familie Kicherer hat durch die Darstellungen im Kaprun-Prozess ihr Lebenswerk verloren.
Kapitel 37
»Mittagessen!«, hallt es durch die Gänge. In einem Raum voller Akten, Papierberge und Gerätschaften sitzt Hans-Joachim Keim und brütet gerade über den letzten Details eines Kunststoff-Gutachtens, das in wenigen Tagen fertig sein muss. Draußen im Garten vor dem kleinen Fenster hat sich der Sommer breit gemacht. Es ist der bisher heißeste Tag des Jahres. Davon merkt Keim wenig in seinem kühlen Büro. Der ebenso spröde wie penible Schwabe ist ganz in seinen Auftrag vertieft. »Jochen, kommst du?«, ruft seine Frau durch die geöffnete Tür nach unten ins Stiegenhaus.
»Ja, gleich«, gibt Keim zurück, als sein Telefon mit einem durchdringenden Ton klingelt, der keinen Aufschub duldet. Die erste Klingelsequenz ist noch gar nicht fertig, als sich Keim ohne Aufzuschauen den Hörer schnappt, mit einer langsamen Bewegung zum Ohr führt und sich mit einem betont gutturalen »Keeeeim« meldet.
»Guten Tag, Herr Keim, hier Karl-Heinz Schuhmacher von der Firma Fakir in Vaihingen an der Enz. Sie haben schon einmal für uns beziehungsweise für unsere Versicherung gearbeitet.«
»Ja, stimmt. Ich habe einmal Spritzgussteile ihrer Firma untersucht. Gute Arbeit.«
»Danke, Herr Keim. Ich bin Entwicklungsleiter hier und, wie soll ich sagen, wir haben ein außergewöhnliches Problem, bei dem wir ihre Hilfe als Gutachter und Kunststoffexperte benötigen.«
»Ich bin ganz Ohr«, antwortet Keim und zündet sich eine Zigarette an.
»Gut. Sagt Ihnen die Brandkatastrophe von Kaprun etwas?«
»Ja klar, furchtbare Geschichte. So viele Tote, und keiner hatte Schuld.«
»155 Tote, um genau zu sein. Diese Züge, Herr Keim, die hatten Heizlüfter unserer Firma eingebaut, Haushaltsheizlüfter für Bad und WC wohlgemerkt. Jetzt hat das Gericht in erster Instanz festgestellt, dass der Brand vom Heizlüfter ausgegangen ist. Die Vorwürfe lauten: Durch Material-, Produktions- und Konstruktionsmängel der Kunststoffgehäuse unseres Heizlüfters aus Bayblend FR1440 wäre es zu diesem Brand gekommen. Herr Keim, wir haben vom Heizlüfter dieser Bauart ungefähr 670.000 Stück gebaut, ohne irgendein Problem. Wir sind weltweit bekannt für unsere gute Arbeit, und jetzt werden wir überall schlecht gemacht. Das ist ein gigantischer Rufschaden.«
»Herr Schuhmacher, nur eine Zwischenfrage: Wie kann jemand einen
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