155 - Kriminalfall Kaprun
sich in selbstgefällige Siegesposen. Die meisten quittieren die Freisprüche mit breitem Grinsen.
Die Gutachter beglückwünschen einander, sie haben einen guten Job gemacht, finden sie. Sie schauen zur Staatsanwältin, die mit versteinertem Gesicht soeben die sechzehn Freisprüche vernommen hat. Ihre Bestürzung ist ihr anzusehen. Eva Danninger-Soriat ist die einzige Person, die vom ersten Tag der Katastrophe bis zum Urteil das gesamte Geschehen verfolgt hat, die Hinterbliebenen tröstete, die Vorermittlungen begleitete und den Prozess in allen Einzelheiten erlebte. Nach ihrem ersten Entsetzen sammelt sie sich wieder. Ihr ist klar, dass sie gegen dieses Urteil berufen wird.
Manfred Seiss’ letzter großer Auftritt auf der Bühne des Kolpinghauses verkommt zur Nebensache, kaum jemand hört ihm zu, als er die Urteilsbegründung verliest. Mehr als fünf Stunden braucht er und stößt dabei überwiegend auf Unverständnis. Ärgerlich äußert er sich später über Hinterbliebene und ihre Anwälte, die sich über seine Entscheidung empören, ohne der Begründung zuzuhören.
Die meisten Verteidiger zwingen sich immer noch, ihre Freude nicht allzu demonstrativ zu zeigen, doch einigen gelingt dies nicht. Feixend hören sie dem Richter zu, dessen Begründung sie wenig interessiert. Nur der Sieg zählt, bei einigen auch die Erfolgsprämie, die ihnen bei Freispruch winkt. Dagegen sind alle Opferanwälte frustriert, mit Freisprüchen für alle 16 Angeklagten hat niemand von ihnen gerechnet.
Nur wenige Hinterbliebene sind noch im Saal. Erstarrt halten sie Bilder ihrer im Tunnel von Kaprun umgekommenen Kinder, Frauen und Männer hoch. Die Ausführungen des Richters verstehen sie nicht, ihr Leben bricht gerade zum zweiten Mal zusammen. Eine japanische Mutter liegt am Boden und wird von Sanitätern versorgt,ihr weinender Mann und ihr Anwalt geleiten sie nach draußen. Ein Innsbrucker Rechtsanwalt stützt die verzweifelten Eltern und wird fotografiert, wie er als großgewachsener Mann dem körperlich kleineren japanischen Elternpaar beschützend beisteht. Später wird er dieses Foto für eine ganzseitige Werbung in einer Zeitung nutzen, zusammen mit einer Anzeige der Anwaltskammer, in der er sich als Rechtsanwalt empfiehlt.
Auch außerhalb des Gerichtssaals gehen die Emotionen hoch. Die Angehörigen werden interviewt, und es fallen harte Worte wie Schandurteil, Schmach für die Republik, gekaufte Justiz, Freisprüche für 16 Mörder und geschobener Prozess. Eine weltweite Öffentlichkeit staunt über die Freisprüche und versteht nicht, warum beim Tod von 155 Menschen niemand Schuld haben soll. Einige Verteidiger sprechen von einem tragischen Unglück für das niemand verantwortlich ist, doch sie werden niedergebrüllt. Ein Krisenmanager der Gletscherbahnen AG spricht von einem »Sieg des österreichischen Rechtsstaats« und wird ausgebuht. Diese Formulierung ist selbst Befürwortern der Freisprüche zu dick aufgetragen.
Noch bis zum Abend befragen Reporter vor allem Hinterbliebene. Oft gehen ihre Erklärungen live auf Sendung. Trotz einiger Strafverteidiger, die versuchen, die Freisprüche schönzureden und das Urteil juristisch zu begründen, ist das Medienecho außerhalb Österreichs verheerend. Die Angehörigen der Kaprun-Toten kennen sich mittlerweile gut, es sind sogar vereinzelt Freundschaften entstanden, und an diesem für sie grausamen Tag versuchen sie, sich gegenseitig zu stützen und sprechen sich Mut zu. Einhellig verurteilen sie die Gerichtsentscheidung. Die österreichischen Opfer vermuten politische Weisungen, die den Tourismus schützen sollten, die bayrischen Angehörigen schließen sich an.
Im Kolpingsaal versucht Kaprun-Richter Seiss für seine Entscheidung Zustimmung und Verständnis zu finden, doch er bekommt sie nur von den Freigesprochenen. Er spricht von einem »Unfall«, und wird schließlich mit dem Satz zitiert: »Gott hat für einige Minutenim Tunnel das Licht ausgemacht.« Dem zu den Überlebenden aus Vilseck zählenden Hermann Geier und seinem Sohn bleibt fast das Herz stehen, als sie das hören. Anwalt Stieldorf ist darüber ebenso empört wie Staatsanwältin Danninger-Soriat. Eine solche Aussage gehört nicht in eine Urteilsbegründung. Die Schuldzuweisung an Gott ist nicht nur blasphemisch, sie wirkt auch wie ein Versuch, von der menschlichen Verantwortung abzulenken, findet sie.
Seiss’ Spruch wird weitergetragen, macht sich selbstständig und wird mit Verwunderung in den Medien
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