155 - Kriminalfall Kaprun
und die Verteidiger im Kaprun-Prozess suchen dürften, nämlich die Befreiung von allen Haftpflichten.
Dort heißt es im Absatz 1: »Die Ersatzpflicht ist ausgeschlossen, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht wurde, das weder auf einen Fehler in der Beschaffenheit noch auf einem Versagen der Eisenbahn beruhte.« Im Absatz 2 wird es dann spannend: »Als unabwendbar gilt ein Ereignis insbesondere dann, wenn es auf das Verhalten (…) eines nicht beim Betrieb tätigen Dritten (…) zurückzuführen ist.«
Dieses Ziel verfolgen die Beschuldigtenvertreter, denkt Danninger-Soriat. Sie wollen im Kaprun-Verfahren nachweisen, dass beim »Unfall« der Gletscherbahn ein »unabwendbares Ereignis« vorliegt, das weder durch einen »Fehler in der Beschaffenheit« noch durch eigenes »Versagen« verursacht wurde, sondern durch einen »nicht beim Betrieb tätigen Dritten«.
Kapitel 34
Die in Wels lebenden Eheleute Evemarie und Helmut Bieber verloren in Kaprun ihr einziges Kind, die 22-jährige Bianka. Mit wachsendem Misstrauen haben sie den Prozess verfolgt. Helmut Bieber ist technisch interessiert, rhetorisch begabt und seine kritischen Fragen sind bei den Angeklagten und ihren Verteidigern gefürchtet. Vor allem ärgern ihn die Sachverständigen. Er hat das Gefühl, dass sie ihren Feststellungen, die ihm missfallen, ein wissenschaftliches Kleid geben, damit sie glaubhafter wirken.
Bieber nimmt sich deshalb vor, als Angehöriger am letzten Verhandlungstag ein Schlusswort zu sprechen und bereitet sich intensiv darauf vor. Doch dann geschieht etwas, das ihm die Stimme verschlägt. Der als Nebenkläger auftretende Anwalt der Gletscherbahnen AG gibt lakonisch zu Protokoll, dass er fünf Millionen EuroSchadenersatz für die zerstörte Kapruner Bahn fordert. Als Helmut Bieber das hört, kann er nicht aufstehen. Seine Beine versagen ihm den Dienst. Er winkt ab, als Seiss ihm das Wort erteilt. Er ist sprachlos. Die Verantwortlichen der Gletscherbahn, die ihm durch eine ungeheure Schlamperei sein einziges Kind genommen haben, besitzen die Frechheit, Schadenersatz in Millionenhöhe zu fordern, während den Hinterbliebenen wahrscheinlich nur ein paar Tausender zugebilligt werden. Sein Redemanuskript fällt zu Boden, er kann nicht mehr.
Ein Auszug aus seiner nicht gehaltenen Rede klingt so: »Im Mutterland des Skisports sollte auch in punkto Sicherheit Pionierarbeit geleistet und die Kaprun-Katastrophe nicht als schicksalhaftes Unglück abgehandelt werden. Es ist keine Schande, wenn jemand einen folgenschweren Fehler macht, es ist aber skandalös, so zu tun, als wäre der Stand der Technik vor 30 Jahren im Bereich der Standseilbahnen stehengeblieben. Vertrauen und ein positives Image kann ein Land auch damit erwecken, wenn die Verantwortlichen zu Fehlern stehen. Die Welt ohne Fehler wird es nicht geben, und ich sehe es keinesfalls als Imageverlust an, wenn die Welt die Wahrheit erfährt und nicht behauptet wird, dass eins plus eins drei ist. Ich hoffe, dass wir Hinterbliebenen von 155 Toten uns nicht auch noch beim österreichischen Steuerzahler dafür entschuldigen müssen, dass unsere Angehörigen die Gletscherbahn benützt haben, die dann verbrannte, und nun jeder Gutachter ein Honorar von etwa 140.000 Euro erhält, damit er keine Schuldigen findet. Schlussworte standen in den letzten Tagen auf der Tagesordnung, viele werden mit der Katastrophe ihr Leben lang nicht abschließen können, auch dann nicht, wenn es Schuldsprüche gibt.«
Niemand ist schuld an der Brandkatastrophe von Kaprun, der am 11. November 2000 155 Passagiere der Standseilbahn auf dem Kitzsteinhorn zum Opfer fielen. Das ist das schlichte Fazit der Verteidigerplädoyers. »Es war ein für alle, auch für die Beschuldigten, unabwendbares und unvorhersehbares Ereignis, für das niemandemSchuld angelastet werden kann«, sagte der Salzburger Rechtsanwalt Peter Lechenauer.
»Es war eine geradezu absurde, unglückselige Verkettung von Kausalfaktoren, die nicht vorhersehbar war«, ergänzte sein Wiener Kollege, Professor Wolfgang Brandstetter.
Im Nachhinein, sagt Brandstetter, lasse sich leicht urteilen. Heute sehen die »Seilbahnbedingnisse« – ein Regelwerk für den Bau und den Betrieb österreichischer Seilbahnen – regelmäßige Überprüfungen der Betriebsanlagen durch einen Brandschutzexperten vor. »Die Katastrophen von heute sind die Sicherheitsanforderungen von morgen«, sagt er. Damals aber habe niemand – nicht die
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