1550 - Die Frau aus der Knochengrube
Friedhof ohne die Eiche konnte sich niemand vorstellen.
Allem hatte sie getrotzt, den wildesten Stürmen widerstanden. Dabei war sie gekrümmt worden. Sie stand etwas schief, als wollte sie sich vor den Menschen verneigen. Kahl stachen die starken Äste und die unterschiedlich dicken Zweige ins Grau des Himmels.
Rudy gönnte den Gräbern keinen Blick und näherte sich auf dem direkten Weg der Eiche.
Er war allein und blieb es auch. Nur das Geräusch seiner schleifenden Schritte war zu hören. Der Wind spielte mit seinen langen braunen Haaren.
Die mächtige Eiche rückte näher. Sie stand ein wenig isoliert. Um sie herum gab es keine Gräber. Es war nicht möglich, hier Löcher zu graben. Das unter der Erde liegende Wurzelwerk des Baumes war einfach zu mächtig und breitete sich weit nach allen Seiten aus.
Rudy hatte die Eiche oft genug besucht, und an diesem Tag würde es das letzte Mal sein.
Die Vorbereitungen hatte er bereits getroffen. In der Abstellkammer seines Elternhauses hatte über Jahre hinweg sein kleiner Kinderstuhl gestanden.
Jetzt nicht mehr. Rudy hatte ihn schon vor Tagen geholt und im nahen Buschwerk versteckt.
Er holte ihn hervor und platzierte ihn an einer bestimmten Stelle unter dem Baum.
Rudy schaute hoch. Er sah den starken Ast über sich, der genau richtig für sein Vorhaben war.
Er holte auch das versteckte Seil aus dem Unterholz hervor.
Was er dann tat, hatte er mehrere Male geübt. Er warf das Seil schwungvoll über den starken Ast. Die bereits geknüpfte Schlinge baumelte leicht. Das Seil musste an seinem Ende nur noch befestigt werden, und das tat er. Dazu stieg er auf seinen Stuhl.
Mit sicheren Bewegungen schlang er den Strick um den starken Ast. Er zog daran und nickte zufrieden. Reißen würde er nicht. Sein Gewicht würde er leicht aushalten.
Danach rückte er den Stuhl zurecht und stieg auf die schmale Sitzfläche.
Die Schlinge baumelte vor seinem Gesicht. Er schaute hindurch und betrachtete das umliegende Gelände.
Ein Griff würde reichen, dann konnte er die Schlinge über seinen Kopf streifen, und es gab kein Zurück mehr.
Ob Rudy etwas dachte, wusste er in diesem Moment nicht mehr. Er war schon jetzt aus seinem normalen Leben herausgetreten. Er hatte die Botschaft empfangen, und er war nicht der Einzige. Andere in seinem Alter hatten sie ebenfalls zugemailt bekommen, und sie waren den Weg bereits vor ihm gegangen.
Die Schlinge hing günstig.
Er lächelte, als er das raue Seil anfasste. Wenig später scheuerte der Hanf bereits an seinem Hals.
Er schaute nach vorn über den Friedhof hinweg, der in der letzten Zeit zu seiner zweiten Heimat geworden war.
Es war alles wie sonst.
Er fand es gut.
Noch stand er auf seinem Kinderstuhl. Ganz starr, als wäre er dabei, sich auf das Unabwendbare zu konzentrieren. Es war weder etwas Ungewöhnliches zu sehen noch zu hören. Der Wind trug auch keine Geräusche vom Ort her an seine Ohren. Die Zeit war vorbei. Eine neue würde anbrechen, und er war gespannt darauf.
Eine neue Welt wartete auf ihn. Eine, die nicht richtig zu beschreiben war, auf die man nur vertrauen musste. Alles andere war nicht mehr wichtig.
Noch konnte er atmen, was er auch tat. Er saugte die Luft tief ein und stieß sie scharf wieder aus. Sie war kalt und trotzdem brannte sie in seinen Lungen.
War sie da?
Sie hatte es ihm versprochen. Sie musste ihn gesehen haben, und sie konnte ihn nicht im Stich lassen.
»Wo - wo - bist du?«, flüsterte er gegen den Wind, der seine Worte forttrug.
Er spürte, dass der kleine Stuhl unter seinen Füßen wackelte. Es lag daran, dass Rudy anfing zu zittern, was jedoch schlagartig aufhörte, als weiter vorn, wo die alten Gräber mit den verwitterten hohen Grabsteinen standen, eine Gestalt erschien.
Es war bestimmt nicht wärmer geworden, doch plötzlich spürte Rudy, dass sich Schweiß auf seiner Stirn bildete.
Also doch.
Sie ließ ihn nicht im Stich. Sie hatte ihr Versprechen gehalten und kam nun auf ihn zu…
***
Rudy hörte nichts von ihr. Sie bewegte sich zwar, aber sie schien den Boden dabei nicht zu berühren.
Sein Herz schlug schneller.
Sein großer Wunsch war in Erfüllung gegangen!
Er hatte sich danach gesehnt, die Schattenfrau noch mal zu sehen. Jetzt war alles gut.
Zwischen den Gräbern und in der Umgebung fiel sie kaum auf. Es lag daran, dass sie farblos zu sein schien. Es war nicht mal genau zu erkennen, ob die Schattenfrau überhaupt bekleidet war. Wenn ja, dann passte sich der Mantel oder das
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