1550 - Die Frau aus der Knochengrube
lässt sich von keinem von uns beeinflussen.«
Ich ließ ihn reden und hatte den ersten Schritt nach vorn getan, als es eine Veränderung gab.
Sie betraf nur mich - genauer gesagt mein Kreuz, denn das erwärmte sich…
***
Ich blieb stehen.
Das hatte auch Suko gesehen, und er fragte sofort: »Ist was passiert?«
»Ich denke schon. Das Kreuz hat sich erwärmt.«
»Dann ist sie doch da.«
»Mal sehen.«
Das war leichter gesagt als getan. Ich schaute mich zwar um, aber nichts bewegte sich in meiner Nähe.
Das Licht der Scheinwerfer verteilte sich nach wie vor über die bleichen Gebeine, die irgendwie künstlich aussahen, als würden sie in einem Geschäft für Gruselartikel liegen. Und doch gab es hier in meiner Nähe etwas Unheimliches, das in den magischen Bereich gehörte, sonst hätte mein Kreuz mich nicht durch den leichten Wärmestoß gewarnt.
Ich drehte meinen Kopf in alle Richtungen.
Kein Knochen bewegte sich. Ich hörte kein Schaben, kein Klappern, natürlich auch keine Stimmen, die etwas geflüstert hätten.
Aber das Andere war vorhanden. Ith musste nur die nötige Geduld aufbringen, um der Sache auf die Spur zu kommen.
Das Kreuz hing noch unter dem Hemd vor meiner Brust, und ich überlegte, ob ich es ins Freie holen sollte oder nicht.
Die Entscheidung wurde mir abgenommen, denn das, was ich bisher nur gespürt hatte, war plötzlich vorhanden.
Über den Knochen und vielleicht auch dazwischen schwebte die Frau aus der Knochengrube…
***
Ich hörte, wie Suko und Braddock Laute der Überraschung ausstießen, aber das interessierte mich im Moment nicht.
Ich musste mich auf das Neue konzentrieren, und das war diese geheimnisvolle Totenfrau.
Noch steckte sie zwischen den Gebeinen.
Es sah fast so aus, weil ich aus meiner Perspektive nur ihren Kopf sah und nicht den Körper. Das bleiche Gesicht schwebte zwischen den Knochen oder anderen Skelettköpfen. Dann musste ich meine Meinung revidieren, denn so bleich war das Gesicht nicht. Es hatte die Farbe der Gebeine angenommen, aber der Kopf war nicht ein blanker Schädel, denn darauf wuchsen Haare, die in der Mitte durch einen Scheitel geteilt waren.
Sie stieg nicht höher. Wenn ich zu ihr wollte, musste ich die Gebeine zur Seite räumen, was auch nicht das Wahre war. Es wäre zu viel zerstört worden.
Die aufgetürmten Skelette reichten mir in der Regel bis zu den Hüften.
An einigen Stellen bildeten sie auch einen höheren Wall, und dazwischen steckte sie.
In der Stille hörte ich die Stimmen von Suko und Braddock am Grubenrand, aber ich verstand nicht, was sie sagten. Zudem hielt mich der Anblick der Frau zu sehr im Bann.
Sah sie mich? Sah sie mich nicht?
Ihre Augen schauten in meine Richtung. Also musste sie mich wahrgenommen haben.
Vielleicht aber auch nicht, wenn es tote Augen waren, und davon musste ich eigentlich ausgehen.
Wie gesagt, ich hätte einiges in dieser Knochengrube zerstört, wenn ich weitergegangen wäre, um näher an sie heranzukommen. Also blieb ich auf der Stelle stehen und wartete ab.
Nicht umsonst, denn plötzlich fing der Kopf an, sich zu bewegen.
Zunächst war nur ein Zittern zu sehen, dann schob sich der Kopf höher.
Ich sah ihre Schultern, dann den Oberkörper.
Nichts war zu hören. Kein Knochengestell bewegte sich. Die Gestalt schien körperlos zu sein oder feinstofflich.
Ja, sie war feinstofflich, das erkannte ich nun. Sie war ein Schattenwesen, das immer weiter vor meinen Augen in die Höhe wuchs, sodass ich nicht nur den Kopf, sondern jetzt schon den ganzen Körper sah. Ich wusste nicht, ob auch er feinstofflich war, denn die Frau trug ein Kleid oder eine Kutte.
Ich sah ihre Beine, die nackten Füße. Kein Gerippe.
Sie schwebte über den Knochen und senkte ihren Blick. Es schien, als wollte sie mich genau ins Visier nehmen.
Wir starrten uns an.
Waren ihre Augenhöhlen gefüllt? Sah ich dort tatsächlich etwas Weißes schimmern oder bildete ich mir das nur ein? Bevor ich mir eine Antwort darauf geben konnte, drehte sich die Gestalt plötzlich mit einer raschen Bewegung zur Seite und verschwand. Sie huschte über die Skelette hinweg, sie war ein Schemen, ein Schatten, und sie hinterließ dabei kein Geräusch.
Ich stand da wie auf der feuchten Erde festgeklebt. Aus meinem Mund drang kein einziges Wort. Ich lauschte nur den eigenen Atemzügen, bis ich Sukos Stimme vernahm.
»Ich denke, dass sie wieder verschwunden ist, John. Was willst du noch länger dort unten?«
»Ja, ich komme.«
In meinem Kopf
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