1559 - Atlan und der Linguide
interessiert: Es bestand keine Gefahr, daß er dieses Schweigen als Zeichen dafür interpretieren würde, daß die Unterhaltung vorbei war.
Regungslos standen sie einander gegenüber.
Aramus Shaenor fragte sich, welche Gefühle den Nakken wohl bei dieser ersten direkten Begegnung mit einem Linguiden bewegen mochten. Aber sosehr er sich auch bemühte, er konnte die Empfindungen seines Gegenübers nicht vollständig erfassen. „Der Zellaktivator", sagte der Nakk schließlich. „Hast du ihn bei dir?"
„Ja."
„Zeige ihn mir."
Der Friedensstifter zog sich die Kette über den Kopf und streckte die Hand aus.
Der Zellaktivator pendelte langsam hin und her.
Der Nakk schien das eiförmige Gerät intensiv zu mustern. „Er sieht aus, als wäre er echt", sagte er schließlich.
Aramus Shaenor las die Zeichen und antwortete: „Das ist er auch."
Dabei hatte er das sichere Gefühl, daß der Nakk insgeheim irgendeinen Plan entwickelte.
Oder als würde dieses Wesen den Linguiden einem Test unterziehen.
Der Nakk zögerte sekundenlang, als sei er sich nicht ganz sicher, wie er das Ergebnis zu werten hatte.
Oder als sei er ...
Belustigt! dachte Aramus Shaenor überrascht. Er macht sich wirklich und wahrhaftig über mich lustig. Er verspottet mich regelrecht. „Gib ihn mir!" verlangte der Nakk.
Der Linguide zog die Hand zurück. „Nein", sagte er, hängte sich den Zellaktivator wieder um und verbarg ihn unter seiner Kleidung. „Hast du Angst vor mir?" fragte der Nakk.
Aramus Shaenor lächelte, obwohl er wußte, daß der Nakk nur sehr wenig mit der linguidischen Mimik anzufangen wußte.
Auf die speziellen Ausdrucksformen seines Gegenübers mochte er in diesem Fall jedoch nicht zurückgreifen.
Er wollte den Nakken nicht früher als nötig darauf aufmerksam machen, daß er seine Bemerkungen angesichts des Zellaktivators verstanden hatte.
Außerdem erfüllte dieses für den Nakken unverständliche Lächeln in diesem ganz speziellen Fall noch einen anderen Zweck: Es schuf wieder ein wenig mehr Distanz. „Nein", sagte Aramus Shaenor ruhig. „Ich habe keine Angst vor dir. Aber wenn ich dich auffordern wollte, dein Leben in meine Hand zu legen - würdest du es tun?"
Der Nakk dachte einige Sekunden lang darüber nach. „Vielleicht würde ich, vielleicht auch nicht", sagte er dann.
Er schwieg für einen Augenblick.
Offensichtlich dachte er angestrengt nach. „Du hast dich über uns informiert", stellte er fest. „Selbstverständlich."
„Nicht alles, was man über uns sagt, ist richtig."
„Das ist mir klar."
„Ich will deinen Zellaktivator nicht haben."
„Um so besser."
„Ich will ihn nur untersuchen."
„Warum?"
„Das hat etwas mit der fünften Dimension zu tun."
Da habe ich ihn offenbar auf eine großartige Idee gebracht! dachte der Friedensstifter teils ärgerlich, teils belustigt. „Du willst es mir also nicht erklären."
„Du würdest es nicht begreifen."
„Du könntest es wenigstens versuchen."
„Nein."
Aramus Shaenor legte die Hand auf den Zellaktivator und beobachtete den Nakken.
Er kam zu dem Schluß, daß es an der Zeit war, etwas zu unternehmen. „Warum entführt ihr die Bionten?" fragte er leise.
Aramus Shaenor hatte den Nakken zu diesem Zeitpunkt bereits lange genug studiert. Er wußte, wo er anzusetzen hatte. Darum stellte er die Frage in Interkosmo.
Das war eine Sprache, mit der sich für den Nakken ein Hauch von Verständnis für die Bedürfnisse andersartiger Lebensformen verband - und ein sehr schlechtes Gewissen.
Die Nakken sahen das Leben als etwas, das man in den Dienst einer ganz bestimmten Aufgabe zu stellen hatte.
Worin diese Aufgabe bestand, wußten offensichtlich nur die Nakken selbst. Alles Leben, das nicht im Dienst dieser Aufgabe stand, erfüllte nach Meinung der Nakken keinen Sinn, auf den man besondere Rücksicht hätte nehmen müssen.
Das betraf jede Art von Leben - auch ihr eigenes.
Sie wußten jedoch, daß der Begriff „Leben" auch noch andere Facetten hatte. Seit sie diese Facetten kannten, entwickelten sie ein gewisses Gespür für das, was die Andersartigen als Recht und Unrecht bezeichneten.
Der Nakk wußte, daß er und seine Artgenossen den Bionten Unrecht zufügten.
Ein schlechtes Gewissen war für einen Friedensstifter wie ein Hebel, der bereits in Position gebracht war: Man brauchte ihn nur noch mit einem Gegengewicht zu belasten.
Das Gegengewicht bestand in diesem Fall aus dem Wort Entführung und allen seinen Ableitungen.
Aber irgendetwas
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