1559 - Kleine böse Nathalie
eine klare Antwort gehört. Aber war sie auch von einer menschlichen Stimme abgegeben worden? Menschen sprachen nicht so hoch und schrill, auch nicht so abgehackt, als wäre jedes Wort von einem Blitz unterbrochen worden.
»Ich brauche dich so sehr«, flüsterte Nathalie.
»Das weiß ich doch.«
»Du fehlst mir.«
Erneut gab es eine schrille Antwort. »Wir sind trotzdem zusammen. Du bist ein Teil von mir, das darfst du nicht vergessen. Und auch nicht, dass ich immer bei dir sein werde. Egal, was noch geschieht. Denk daran, ich bin in deiner Nähe. Ich will nicht, dass du Schaden erleidest, und du weißt genau, dass alles, was du tust, von mir beobachtet wird.«
»Ja.«
»Dann wirst du deinen Weg gehen und musst dir keine Sorgen machen. Nimm keine Rücksicht, Nathalie, denn auf mich hat man auch keine Rücksicht genommen. Hol dir vom Leben das, was dir zusteht, denn du weißt ja, dass du meine Nachfolgerin bist. Ich habe keine andere, und ich werde aus dem Fenster der Hölle zuschauen, was du tust.«
»Ich verspreche es dir. Ich werde dich niemals vergessen und immer wieder zu dir kommen, so wie es abgesprochen wurde.«
»Ja, vergiss das niemals.«
Nach dieser Antwort herrschte Schweigen.
Nathalie stand unbeweglich und schaute auf die Geistgestalt vor sich, die so kompakt aussah.
Allmählich zog sich das Gebilde zurück. Die beiden Farbnuancen verschwanden und überließen diesem dunklen und zugleich grünen Licht das Feld.
Daran hatten sich Nathalies Augen längst gewöhnt, und so sah sie mit Freude, was dort auf dem Tisch liegen geblieben war.
Ein Totenschädel!
Sie wartete noch einige Sekunden wie jemand, der sich auf ein bestimmtes Ereignis konzentrieren will. Als die Zeit vorbei war, ging sie vor und hielt direkt neben dem Tisch an, auf dem der Gegenstand lag, dessentwegen sie überhaupt gekommen war.
Sie streckte beide Hände aus und umfasste damit den Totenschädel, den sie anhob und an sich drückte.
Es war ein zärtliches und zugleich makabres Bild. Sie hielt ihn an ihre Brust gepresst. Das Kinn lag auf der haarlosen Oberfläche. Die Augen hielt sie niedergeschlagen, aber nicht ganz geschlossen.
Mütter halten ihre Babys so, um ihnen Schutz vor der Welt zu geben.
Auch Nathalie wollte ihr Baby schützen, auch wenn es sich dabei um einen blanken Totenschädel handelte.
Es war nicht irgendeiner. Er stand schon in einer engen Beziehung zu ihr, und das würde auch so bleiben. Der Tod hatte die beiden nicht trennen können.
Wie lange Nathalie so auf der Stelle gestanden hatte, konnte sie nicht sagen. Sie spürte weder Feuchtigkeit noch Kälte. Für sie war die Umgebung eine Höhle, die ihr Schutz vor den Bösartigkeiten des Lebens bot.
Und diese würden kommen. Sie waren nicht aufzuhalten, aber darauf hatte sie sich eingestellt, und sie konnte sich auf den Schutz einer Macht verlassen, die stärker war als die Menschen…
***
Eric Garner lenkte sein Wohnmobil von der Straße weg auf einen schmaleren Weg, der in die Buschlandschaft hineinführte und an einem Parkplatz endete.
Dort wollten sie sich treffen. Das hatten sie so abgemacht.
Während Garner bremste und durch die Scheibe schaute, über die der Regen in langen Schlieren lief, dachte er daran, wie spannend diese Dates waren, die über das Internet zustande kamen. Man traf in den Chatrooms so viele interessante Leute.
Man verabredete sich mit ihnen. Man hatte Spaß, geilen Sex - oder man ging wieder auseinander. Es kam immer darauf an, ob der Funke übersprang.
Das war bei Garner oft der Fall gewesen. Er, der Typ, der die Hälfte seines Lebens bereits hinter sich hatte, liebte das Junge, das Unverbrauchte, das frische Fleisch der Jugend, und er hätte früher nie gedacht, dass derartige Kontakte zustande kommen würden.
Das Internet machte es möglich. Da huschten die Mails hin und her, und es wurden auch Fotos ausgetauscht.
So war es auch bei ihm gewesen.
Schon dreimal hatte er Glück gehabt. Das heißt, beim letzten Mal war es mehr ein Lattenschuss gewesen. Da hatte sich seine Bekanntschaft als billige Erpresserin herausgestellt. Sie wollte nur Geld und nichts dafür geben.
Er hatte sie aus dem Wagen geworfen, aber von seinen Plänen hatte er keinen Abstand genommen. Er machte weiter. Enttäuschungen gab es immer wieder.
Davon wollte er sich nicht abhalten lassen.
An diesem grauen und regnerischen Abend würde es wieder zu einem Date kommen.
Die Kleine hieß Nathalie. Ein Püppchen, wenn er an ihr Gesicht dachte. Sie hatte
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