1559 - Kleine böse Nathalie
Sie haben den Weg umsonst gemacht.«
»Ach«, sagte Bill. »Fällt die Lesung aus?«
»Ja, leider.« Die Sprecherin rückte ihre Bille mit dem schwarzen Gestell zurecht.
»Warum?«
Eine Besucherin antwortete. »Der Autor ist krank geworden. Ein neuer Termin steht noch nicht fest. Angeblich ist die Absage über das Internet bekannt gegeben worden, aber nicht jeder schaut immer dort hinein.«
»Das stimmt.« Bill nickte. »Wir auch nicht.«
Die Frau im Hosenanzug rang die Hände. »Bitte, ich bin ja selbst enttäuscht, aber gegen höhere Gewalt kann man nichts machen.«
Ein Mann musste lachen, bevor er seine bissige Bemerkung abgab.
»Ja, ja, und jetzt liegt er im Krankenbett und wartet darauf, die Nahtoderfahrungen am eigenen Leib zu erfahren.«
»Bitte, das hat er schon!«, rief die Sprecherin.
Bill hob die Schultern und wandte sich an mich. »Dann können wir uns ja wieder auf den Heimweg machen.«
»Sieht ganz so aus.«
Nicht nur wir wollten das, auch die anderen Besucher, und sie waren alles andere als begeistert. Einige fluchten sogar auf dem Weg zum Parkplatz, während ich nur den Kopf schüttelte.
Bill sah das alles lockerer.
»Der Abend ist erst angebrochen. Ich bin gespannt, wie er enden wird.«
»Hast du einen Vorschlag?«, fragte ich ihn.
»Klar.« Er lächelte breit. »Wir könnten zu mir fahren. Ich weiß, dass Sheila noch einige Leckerbissen im Gefrierschrank hat, die nur darauf warten, aufgetaut zu werden. Dazu ein leckeres Bier oder einen guten Rotwein, das wäre doch was oder?«
Ich blieb an der Beifahrertür stehen.
»Das ist auch das Mindeste, womit du den Abend retten kannst.«
»Das tue ich gern. Außerdem kannst du mir erzählen, was in der Zwischenzeit so alles vorgefallen ist, in der wir uns nicht gesehen haben.«
»Mal schauen.« Ich stieg ein und machte die Beine so lang, wie es mir in dem engen Porsche möglich war.
Wenn ich ehrlich sein wollte, dann kam es mir zupass, dass die Lesung ausfiel.
Große Neuigkeiten hätte ich bestimmt nicht erfahren.
»Ich rufe Sheila von unterwegs aus an«, sagte Bill. »Das ist dein Problem…«
***
Eric Garner traute seinen Augen nicht.
Was er da sah, war eigentlich verrückt, das gehörte in einen Horrorfilm, aber nicht in die Wirklichkeit. Und trotzdem stimmte es. Der grünliche Totenschädel war keine Täuschung, es gab ihn, und der Mann wusste nicht, ob er nun lachen oder schreien sollte.
»Was ist das denn?«, flüsterte er.
»Das siehst du doch«, erwiderte Nathalie.
»Ist er echt?«
»Ja.«
Garner musste schlucken. »Und - ahm - woher weißt du, dass dieses Ding echt ist?«
»Weil ich ihn gut kenne. Ich habe ihn schon gesehen, als er noch ein normaler Kopf gewesen ist.«
»Kannst du mir das näher erklären?«
Nathalie schielte auf den blanken Schädel. »Es ist alles, was mir von ihm geblieben ist.«
»Von wem?«
»Von meinem Vater.«
Eric sagte nichts mehr. Er verdrehte nur die Augen, und er verspürte den Wunsch, sich hinzusetzen.
Er ließ sich auf das Bett fallen. Die Lust auf eine heiße Nummer war ihm vergangen. Er wollte dabei keinen Totenschädel in der Nähe haben.
»Bring ihn weg!«
»Warum?«
»Ich will es so!«
Nathalie lachte rau. »Das kann ich mir denken. Aber die Reliquie gehört mir, und ich bestimme, was mit ihr geschieht. Sie ist etwas Einmaliges. Einen Schädel wie ihn findest du nicht ein zweites Mal. Er ist ein Wunder.« Sie streckte die Hand aus und streichelte ihn wie die Hand einer Mutter ihr Kind.
Eric Garner war von der Rolle. Er hockte auf der Bettkante und wusste nicht, was er von dieser makabren Performance halten sollte. Eine junge Frau, die einen Totenschädel im Gepäck mit sich schleppte, die konnte nicht normal sein. Wer sagte ihm, dass sie nicht noch andere Überraschungen für ihn bereit hielt?
Sein neuer Entschluss stand sehr schnell fest.
»Ich denke, dass du den Schädel einpackst und damit wieder verschwindest. So habe ich mir unser Treffen nicht vorgestellt.«
»Aber ich.«
Mit dieser Antwort hatte Garner nicht gerechnet. Er schaute seine Besucherin an, als wäre sie ein Monster. Dann suchte er nach Worten und fragte: »Soll das heißen, dass du hier bei mir bleiben willst? Mit dem Schädel?«
»Ja.«
Garner schlug auf seine Oberschenkel.
»Aber das Ding stört mich. Es ist mir scheißegal, ob es der Schädel deines Vaters ist. Ich will ihn hier nicht mehr sehen. Das ist schließlich mein Wohnmobil, verstehst du?«
»Klar. Aber du wolltest mich. Jetzt bin ich
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