156 - In den Katakomben von St. George
irgendwann hatte sie den Eindruck, daß er das Haus verlassen hatte. Eine bleierne Stille herrschte.
Nun stand Shelly hastig auf. Die Morgentoilette nahm diesmal wenig Zeit in Anspruch. Wenn Vater wirklich aus dem Haus gegangen war, mußte sie handeln.
Im Schrank befand sich eine alte Handtasche, die die Form eines Lederbeutels hatte. Sie eignete sich bestens dafür, den Kristall darin aus dem Haus zu schmuggeln.
Wenn der Kristall ihren Vater nicht mehr beeinflußte, würde dieser wieder wie früher werden. Nichts wünschte sich Shelley sehnlicher, denn seit sie aus Tibet zurückgekehrt waren, lebte sie mit einem Fremden unter diesem Dach.
Behutsam öffnete sie die Tür und trat ausgehfertig aus ihrem Zimmer.
Die Stille war so dicht gewoben, daß Shelley fast meinte, sie körperlich zu spüren. Düster war das Haus, obwohl draußen die Sonne schien. Daran war Shelley gewöhnt. Sie kannte dir verschwimmenden Schatten in den Kicken und das schummrige Licht in der Nähe der Fenster.
All das war ihr von Kindheit an vertraut.
Das Unbehagen, das sie seit Tagen empfand, kam ausschließlich von dem Kristall, in dem das Böse wohnte.
Das Mädchen erreichte die Treppe und lauschte. Unten in der Halle tickte eine alte Pendeluhr, die seit Generationen im Besitz der Robinsons war.
Shelley stieg die Stufen vorsichtig hinunter. Ihre schmale Hand glitt über das glatte Holzgeländer, an ihrem Handgelenk baumelte der schwarze Lederbeutel, von dem sie sich bald trennen würde, denn sie hatte nicht vor, den Kristall noch einmal herauszunehmen, wenn er sich erst einmal darin befand.
Sie würde den Beutel von sich schleudern, sobald sie auf der Tower Bridge stand, und lachenden Herzens Zusehen, wie der Kristall in weitem Bogen in die Themse fiel. Ein kurzes Aufspritzen noch, ein paar Wellen, die sich rasch verloren - und Ruhe, Frieden…
Shelley blieb auf der letzten Stufe stehen.
Diese Stille kam ihr fast wie ein Gefängnis vor.
Ich bin allein, dachte das Mädchen. Allein mit Ragamm, dem todbringenden Geist!
***
Es war schon fast zuviel der Ehre: Warren Chamberlain durfte Loxagon und dessen Komplize nicht nur in seinem Haus beherbergen, er erfuhr auch von den Planen des Teufelssohnes.
Ein abtrünniger Teufel namens Por sollte sterben - weil Loxagon es so beschlossen, weil er ihn zum Tode verurteilt hatte. Doch Por war nicht mehr nur Por selbst.
Er befand sich jetzt im Körper eines Mannes aus der Welt des Guten!
Zum erstenmal erfuhr Warren Chamberlain von einer Vereinigung, die sich der ›Weiße Kreis‹ nannte und ein Bollwerk gegen das Böse war.
Der Leichenbestatter hörte, daß dem Kreis insgesamt drei Männer aus der Welt des Guten angehörten: Daryl Crenna, Mason Marchand und Brian Colley. Zu Hause hießen sie Pakka-dee, Fystanat und Thar-pex. Weitere Mitglieder des ›Weißen Kreises‹ waren der Hexenhenker Anthony Ballard sowie der weiße Werwolf Bruce O’Hara. Ein illustres Völkchen, eine schlagkräftige Truppe, die der schwarzen Macht schon so manche schmachvolle Niederlage beschert hatte.
Por befand sich in Brian Colley alias Thar-pex. Dem Mann aus der Welt des Guten standen damit nicht nur seine eigenen übernatürlichen Fähigkeiten, sondern auch die Teufelskräfte Pors zur Verfügung.
Das bedeutete, daß der ›Weiße Kreis‹ noch ein bißchen schlagkräftiger geworden war. Ein zusätzlicher Grund für Loxagon, gegen diese lästige, von der Hölle ungeliebte Organisation vorzugehen.
»Sollen wir Por für dich töten?« fragte Frank Esslin. »Hast du uns deshalb dieses Treffen hier vorgeschlagen?«
Die Sonne schien zum Fenster herein und blendete ihn. Er kniff die Augen zusammen und verzog das Gesicht.
»Ich möchte dabeisein, wenn es ihm ans Leben geht«, knurrte Loxagon ganz hinten in der Kehle. Niemand war grausamer als er. Man fürchtete ihn in den weiten Gebieten der Hölle. Er wußte sich Respekt zu verschaffen. Manchmal hatte man vor ihm mehr Angst als vor seinem Vater, und es gab viele, die nicht verstehen konnten, daß er nicht noch einmal versuchte, Asmodis zu entmachten.
Sein erster Versuch war gescheitert, doch inzwischen hatte er dazugelernt… Es war vielen unbegreiflich, daß er sich damit begnügte, im Höllenorchester die zweite Geige zu spielen.
Gab er sich tatsächlich mit dem zufrieden, was ihm sein Vater an Macht und Kompetenz überließ, oder begnügte er sich damit nur zum Schein?
Niemand wußte, was in Loxagons Kopf vorging. Er hatte sich nach seiner Rückkehr nicht
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