1560 - Ahnenfluch
und ob der Pilot ihr die geglaubt hätte, war genauso zweifelhaft.
Sie entschied sich zu warten. Sobald die Maschine aufgesetzt hatte, wollte sie mit John Sinclair Kontakt aufnehmen und ihn bitten, so schnell wie möglich zu kommen.
Das war die eine Seite. Es gab noch eine andere, auf die Shao noch mehr Hoffnung setzte. Sie hoffte, dass sich John bereits am Flughafen aufhielt, um sie abzuholen.
Dass sich bei Suko etwas verändert hatte, das würde er nicht sofort bemerken, aber…
Ihre Überlegungen brachen ab, denn sie hatte etwas gehört. Mit einem leisen Laut hatte sich Suko gemeldet.
Leicht erschreckt drehte Shao den Kopf.
Suko war erwacht und nur noch nicht richtig in der Welt, denn er schüttelte einige Male den Kopf.
Shao stieß ihn an.
Er drehte sich nach rechts, und Shao versuchte, einen Blick in seine Augen zu werfen. Es gelang ihr nicht. Er hielt sie noch halb geschlossen.
»He, wie geht es dir?«
Suko schüttelte leicht den Kopf, um richtig wach zu werden.
»Ist alles in Ordnung?«
Er nickte, rieb seine Augen und blickte Shao dann an. Auf diesen Augenblick hatte sie gewartet und sich auch gefragt, was sie tun würde, wenn er sie mit grünen Augen anschaute.
Darüber brauchte sie sich keine Sorgen zu machen. Sukos Augen waren normal. Es gab keinen Grünstich mehr in den Pupillen, und Shao fiel ein dicker Stein vom Herzen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. Er hatte es überstanden.
Sie fasste nach seiner Hand. Die Haut fühlte sich etwas kühl an und war auch von einem dünnen Schweißfilm bedeckt. Das nahm sie hin, ohne nachzudenken.
Da er noch kein Wort gesagt hatte, fragte sie noch einmal: »Bitte, Suko, wie geht es dir?«
Zuerst schaute er sie verwundert an. Danach gab er ihr die Antwort, und sie wollte nicht glauben, was sie hörte. Er sprach mit einer fremden Stimme.
Und nicht allein das. Er hatte auch in chinesischer Sprache geantwortet…
***
Alles kehrte wieder zurück, und Shao hatte das Gefühl, in ein tiefes Loch zu fallen.
Vor ihren Augen drehte sich alles. Das Blut war ihr in den Kopf geschossen, und sie hatte das Gefühl, von zahlreichen Feinden umgeben zu sein, die sich allerdings im Unsichtbaren aufhielten.
Eine fremde Stimme in ihrer Muttersprache. Es war nicht zu erklären.
Shao war selbst Chinesin. Sie hatte die Antwort verstanden, weil sie in Kanton-Chinesisch gesprochen worden war.
Er hatte gesagt, dass es ihm gut gehe.
Sie hätte es noch hingenommen, wenn er mit der eigenen Stimme gesprochen hätte.
Aber das war nicht der Fall. Sie hatte eine fremde, dunkel klingende Stimme gehört, und sie spürte, dass ein leichter Strom aus Eiswasser über ihren Rücken rieselte.
Sie schloss ihren Mund nicht. Die Unterlippe zitterte, und sie konnte ihren Blick nicht mehr von seinem Gesicht wenden, das ihr so vertraut, in diesem Moment aber auf einmal sehr fremd war.
Es drängte sie danach, die nächste Frage zu stellen. Zugleich spürte sie eine tiefe Angst.
»Und es geht dir wirklich gut?«, flüsterte sie.
»Ja, es geht mir gut.«
Erneut hatte er mit der fremden Stimme gesprochen und natürlich auch Chinesisch.
Shao konnte es drehen und wenden, fand keine Erklärung dafür. Sie musste sich damit abfinden, dass Suko nicht mehr der gleiche Mensch war, mit dem zusammen sie die Maschine betreten hatte.
Shao dachte darüber nach, ob sie ihn nach den Gründen fragen sollte, weshalb er Chinesisch sprach. Sie verwarf den Gedanken wieder, weil sie nicht glaubte, dass sie die Antwort zufrieden stellen würde, denn Suko würde nichts Ungewöhnliches daran finden, so geantwortet zu haben.
Aber sie wollte etwas sagen. Sie musste es tun, weil sie das Schweigen zwischen ihnen als noch bedrückender empfand.
»Wir haben den Flug gleich hinter uns. Wahrscheinlich fliegen wir schon bald über Land. Freust du dich auf die Landung in London? Dann sind wir wieder zu Hause und wir können unserem normalen Alltag nachgehen.«
»Das weiß ich.«
Shao schnaufte. Er hatte sie also verstanden, aber wieder in seiner Muttersprache geantwortet. Das war ihr zwar unangenehm, aber es bedeutete noch keine Gefahr, und darüber konnte sie eigentlich froh sein.
Aber wer oder was steckte in ihm?
Es musste etwas mit dem zu tun haben, was in dieser Maschine transportiert wurde.
Shao hasste diesen Toten plötzlich, von dem sie nicht wusste, ob er wirklich normal tot war oder nur in einem tiefen, magischen Schlaf lag, aus dem er vielleicht mit Sukos Hilfe erwachen sollte.
Auch wenn ihr
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