1560 - Ahnenfluch
apathisch auf dem Rücken lag.
»Weg! Geh endlich zur Seite!«, wiederholte sie. »Das ist einzig und allein meine Sache!«
Ja, das sah ich ein und trat zur Seite, sodass Shao den nötigen Platz hatte…
***
Sie kämpfte hier als Shao und nicht als Phantom mit der Maske, in das sie sich auch verwandeln konnte. Aber etwas von dieser anderen Gestalt musste jetzt in ihr stecken, das las ich an ihrem Gesicht ab.
Es zeigte keine weichen Züge mehr, keinen Liebreiz. Darin war einzig und allein eine Härte, die man ansonsten kaum bei einer Frau zu sehen bekam. Sie ging ihren Weg. Hai King tat es auch. Sein Gesicht war noch starrer als das der Chinesin. Es wirkte wie das einer Puppe, und es hatte eine grünliche Farbe angenommen, die selbst die Lippen nicht verschont hatte. Beide näherten sich. Shao hielt die Peitsche locker. Bei jedem Schritt schwangen die drei Riemen, die aus der Haut des mächtigen Dämons Nyrana geschnitten worden waren.
Sie gab sich keine Blöße. Sie war die Rächerin.
Ich trat noch zwei Schritte zur Seite, weil ich nicht nur ihren Rücken sehen wollte.
Zu lange durfte sie nicht warten. Irgendwann musste sie zuschlagen.
Der Schwung ihres rechten Arms nahm bereits zu. Es war das Zeichen dafür, dass sie sich auf den Schlag eingestellt hatte.
Der nächste Schritt.
Noch einer?
Nein, nicht bei Shao. Den überließ sie Hai King, und damit hatte er genau den Punkt erreicht, den sie abgewartet hatte.
Suko hatte oft aus dem Handgelenk und von unten nach oben zugeschlagen, diese Routine besaß Shao nicht. Sie hob den Arm, um normal zu schlagen.
Das tat sie dann.
In den nächsten Schritt Hai Kings hinein jagte sie die drei Riemen, und alle drei trafen.
Es war still in der Halle geworden, und so hörte jeder das Klatschen, als die Riemen ihr Ziel erwischten.
Hai King wurde gestoppt.
Er zuckte zusammen. Danach bewegte er sich wie ein Hampelmann von einer Seite zur anderen, aber auch nach vorn und zurück.
Shao lauerte leicht geduckt. Sie war bereit, noch einmal zuzuschlagen. Im Moment brauchte sie das nicht, denn die Gestalt zeigte keinerlei Angriffsbereitschaft mehr.
Hai King drehte sich auf der Stelle, und jetzt war deutlich zu sehen, dass sein Körper nicht aus Holz bestand, denn die drei Riemen hatten drei tiefe Wunden hinterlassen.
Ich stand inzwischen neben Shao. Ich hörte ihr stoßweises Atmen und sah auch, dass sie immer wieder den Kopf schüttelte, als könnte sie selbst nicht fassen, was sie getan hatte.
Hai King taumelte. Die Risse oder Wunden in seiner Gestalt wurden immer tiefer und mussten in seinem Innern etwas in Brand gesetzt haben, denn aus den Wunden drang ein stinkender Rauch hervor, der so roch, als würde eine Leiche verkohlen.
Es war kein Holz, es war Haut. Und sie blieb auch nicht mehr glatt. Sie schrumpelte ein, sodass Hai King immer mehr das Aussehen einer Mumie annahm.
Es war ihm nicht mehr möglich, sich auf den Beinen zu halten. Als hätte er einen Stoß erhalten, so kippte er nach hinten und fiel zurück in den Sarg.
Der Stein, der noch immer vor seiner Brust hing, hatte seine Strahlkraft verloren, weil Shao ihn ebenfalls getroffen hatte. Er dunkelte ein, er verkleinerte sich und verwandelte sich tatsächlich in einen schwarzen Klumpen, der mich an Teer erinnerte.
Wir traten an den Sargrand heran.
Shao schaute voller Verachtung nach unten. Ihre Lippen verzogen sich.
»Stirb endlich, du verdammtes Wesen! Niemand will dich auf dieser Welt! Du gehörst nicht hierher!«
Die letzten Worte hatte sie geschrieen, und für mich hatte es für einen Moment so ausgesehen, als wollte sie sich auf die Gestalt stürzen.
»Lass es lieber«, riet ich ihr mit leiser Stimme. »Es reicht. Du hast den Ahnenfluch mit der Peitsche ausgelöscht.«
»Ja, du hast wohl recht.«
Unter uns knisterte es. Es war keine Stimme, die diese Laute abgegeben hatte, sondern die Haut, die jetzt völlig ausgetrocknet war und zerkrümelte. Das Gesicht hatte wieder das Aussehen einer Mumie angenommen, allerdings zerfiel auch hier die Haut, sodass grauweiße Knochen zum Vorschein kamen.
Shao gab einen Knurrlaut von sich. Sie stand noch immer unter einem wahnsinnigen Druck, und den musste sie einfach loswerden.
Bevor ich es verhindern konnte, hob sie das rechte Bein an. Aber sie stieg nicht in den Sarg hinein, wie ich es angenommen hatte, sie zerhämmerte voller Wut den Schädel der Gestalt, sodass die Knochen zersplittert und zerrieben wurden. Dann zog sie den Fuß wieder zurück, schaute
Weitere Kostenlose Bücher