1560 - Ahnenfluch
sich eigentlich normal verhalten. Er hatte sich bewegen können, war sogar aufgestanden, nach vorn gegangen, um mit den Piloten zu sprechen, und dann war es passiert.
Und zwar nur bei ihm!
Genau daran hakten Shaos Überlegungen fest. Nur bei Suko. Bei allen anderen nicht. Das musste etwas zu bedeuten haben, und das hatte es auch.
»Nur er«, murmelte sie und brauchte nicht groß weiter zu denken. Die Lösung lag eigentlich auf der Hand. Sie war so simpel, dass Shao nur den Kopf schütteln konnte. Beinahe hätte sie sogar gelacht. Im letzten Augenblick riss sie sich zusammen.
Es hatte ihm gegolten! Alles hatte eigentlich Suko gegolten. Sogar die angebliche Geburtstagsfeier. Er und ich sind nach New York gelockt worden, dachte sie. Dort sind die Dinge dann in Bewegung gekommen. Es hatte keine Feier gegeben, dafür waren sie mit dem Tod der Hauptperson konfrontiert worden.
Plötzlich hatte sich für sie eine Tür geöffnet, und sie konnte nur staunen. Aber sie gratulierte sich auch dafür, dass ihr der Durchblick gelungen war. Es ging nicht um die anderen Menschen hier in der Maschine, es ging einzig und allein um Suko.
Sie stöhnte auf. In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken. Auch wenn sie jetzt Bescheid zu wissen glaubte, besser ging es ihr trotzdem nicht. Shao war Realistin, und sie sagte sich, dass die andere Seite ihr Ziel erreicht hatte.
Suko war zwar äußerlich nicht zu einer anderen Person geworden, innerlich aber schon. Da war die andere Kraft oder andere Seite stärker gewesen, und genau das machte Shao Angst.
Wie oft hatte sie sich auf Sukos Stärke verlassen können! Er hatte ihr stets Mut und Kraft gegeben, wenn es ihr mal seelisch nicht so gut ging, oder wenn sie mit anderen Mächten konfrontiert worden waren. Jetzt aber musste sie einsehen, dass auch Suko kein Übermensch war.
Sie atmete schwer, und als sie ihrem Partner einen Seitenblick zuwarf, da musste sie zugeben, dass Suko für sie plötzlich zu einer zwar nicht fremden, aber doch neutralen Person geworden war. Sie stellte sich die Frage, wie er auf die normalen Dinge des Alltags reagieren würde. Was würde er tun, wenn sie gelandet waren?
Sein Zustand hing mit der Gestalt zusammen, die im Sarg lag und aussah wie eine Mumie. War diese Gestalt tatsächlich tot oder steckte in ihr noch ein unheilvolles Leben?
Es war so schwer, eine Antwort zu finden. Aber sie dachte daran, dass sie und er immer zusammengehalten hatten, und das würde sich jetzt auch nicht ändern.
In guten wie in schlechten Zeiten…
Für Shao war jetzt wichtig, was nach der Landung geschehen würde. Sie konnte sich nichts vorstellen, aber sie war überzeugt davon, dass dieser tote Hai King dabei eine große Rolle spielte.
Shao schaute aus dem Fenster. Sie sah die Wolken vorbeihuschen wie zerfledderte Wattebäusche.
Unter sich sah sie das Meer als wogende Fläche mit hellen Schaumkronen.
Noch flogen sie über dem Wasser. Das würde nicht mehr lange so bleiben. Die Küste war nahe, das hatte der Pilot ihnen gerade mitgeteilt. Mit der Ruhe des Flugs war es auch vorbei. Hin und wieder erfasste ein leichtes Rütteln die Maschine. Das allerdings war normal, wenn ein Flieger sich dem Land näherte. Da gab es des Öfteren leichte Turbulenzen, die nicht weiter tragisch waren.
Die Chinesin schaute wieder nach rechts, wo Suko saß.
Er schlief noch immer, und er hatte seine Sitzhaltung nicht verändert. Er war nicht zusammengesackt, sah sogar entspannt aus, wenn sie in seine Gesichtszüge schaute.
Wer ihn so sitzen sah, hätte nie für möglich gehalten, dass mit ihm eine Veränderung vorgegangen war.
Shao fand seinen sichtbaren Zustand nicht so schlimm. Wenn er bis zur Landung andauern würde, war das sicherlich nicht schlecht. Dann hatten sie festen Boden unter den Füßen, und die Karten konnten wieder neu gemischt werden.
Und noch ein Gedanke ließ sie nicht los. Es wäre perfekt gewesen, wenn sie Kontakt mit John Sinclair hätte aufnehmen können. Die Benutzung eines Handys war nicht möglich. Die Zeit, dass man auch an Bord mit dem Handy telefonieren durfte, würde sicherlich irgendwann kommen. Momentan hatte sie nichts davon. Um zu telefonieren, hätte sie schon ins Cockpit gehen müssen. Ob man ihr das allerdings gestattete, war die große Frage. Suko war es gelungen, er besaß seinen Scotland-Yard-Ausweis. Das war bei Shao nicht der Fall. Ob sich der Pilot trotzdem überreden lassen würde, stand in den Sternen. Außerdem hätte sie eine Erklärung abgeben müssen,
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