1567 - Die Auserwählten
ihr der Gedanke. Sie sprang auf und rannte durch das steigende Wasser zum Rand des Kessels. Vorsichtig stieg sie die dreißig Meter so nach oben, wie sie heruntergekommen war. Nur die Steine wurden immer glitschiger, mit jeder Sekunde stieg die Absturzgefahr.
Schnaufend erreichte Hagea die Felskante.
Da lag der Kleiderhaufen!
Sie wühlte mit fliegenden Fingern - und hatte Sekunden später das gefunden, worauf sie gehofft hatte. Der fingerlange Dorn in ihrer Hand war ein Vibratormesser. Keuchend schluckte sie ihre Furcht hinunter. Noch einmal denselben Weg hinunter. Unten im Talkessel stieg das Wasser unaufhaltsam an. Doch allein der Gedanke an Bluda reichte, sie wieder auf die Beine kommen zu lassen.
Unter dem feinen Nieselregen der Brandung rutschte sie die Felsen mehr hinunter, als daß sie kletterte. Sie erreichte den überfluteten Boden in Rekordzeit. Wo war ihre Mutter? Da sah sie Bluda, schon bis zur Hüfte im V/asser. Hagea preßte den Knopf. Aus der dünnen Seite des Dorns fuhr eine heftig vibrierende energetische Schneide. „Kleine! Ich habe dir gesagt, du sollst dich in Sicherheit bringen!"
Hagea kniete rasch zu ihren Füßen nieder und durchtrennte die Tentakelwurzeln des Roten. Dabei verschwendete sie keinen Gedanken an das Leben der Pflanze, das sie nun vernichtet hatte. Die Roten hier unten waren nicht mehr zu retten, wohl aber die siebzig Linguiden.
Das Reißen der Pflanzenfasern ging im Brandungstoben unter.
Bluda riß sich los. Hagea war schon zum nächsten Linguiden gesprungen und durchschnitt auch dessen Fesseln. Während sie zum dritten lief, taten sich der Mann und Bluda zusammen und befreiten mit vereinten Kräften eine weitere Frau.
Das Wasser stieg. Doch je mehr Linguiden frei waren, desto rascher ging die Aktion voran.
Irgendwann riß ihr jemand das Messer aus der Hand. „Verschwinde hier!" schrie der Unbekannte durch die Gischt. „Los jetzt! Nach oben!"
Hagea kam erst jetzt zur Besinnung. Sie sah, daß fast alle Linguiden ihre Fesseln abgestreift hatten und sich auf dem Weg über die Felsen nach oben befanden. Und die, die sie nicht erreicht hatte, standen bis zum Hals in der wirbelnden Flut. Dafür reichten ihre Kräfte nicht. Also drehte sich die junge Linguidin auf dem Absatz um und watete durch stellenweise brusttiefe Lachen zum Aufstieg.
An ihren Beinen zerrte ein heftiger Sog. Mehrmals verlor sie den Boden unter den Füßen, mehrfach drohte das Wasser sie fortzuziehen.
Endlich die Felsen.
Sie hatte keine Kraft mehr.
Jemand packte Hagea von hinten und trug sie mit festem Griff hinauf. Es war Aerton, ihr Vater. Oben angekommen, sah sie nur noch, wie der letzte der Gefangenen den Felsenrand erreichte. Dann brach sie vor Erschöpfung zusammen. Aerton, Bluda und der zwei Meter große Rote beugten sich über sie. Die einen mit ausgezehrter Miene, der andere mit raschelndem Blattwerk, das Freude signalisierte
3.
Wenige Tage später vollendeten sie das letzte Haus. Ganz in seiner Nähe stand der junge Baum - und auf dem Umweg über Hageas Tanzkünste hatten die Linguiden versprochen, sein Leben zu beschützen.
Erst im nachhinein wurde ihr bewußt, daß sie etwas Besonderes getan hatte. Sie erinnerte sich an die Ereignisse vor ein paar Tagen: als Bluda sie so heftig gedrängt hatte, den einen Tag in der Sprachschule zu verbringen. Hagea unterschied sich wirklich von den anderen. Sie war nicht glücklich darüber, aber nun konnte sie vor der Tatsache nicht länger die Augen verschließen.
Die Siedlung wurde fertiggestellt, die ersten Gärten entstanden. Hagea unterdrückte die nagenden Gedanken. Arbeit und riesige Essensportionen halfen ihr dabei. Außerdem betrieb sie gemeinsam mit Bluda, die ja fast eine Schlichterin geworden wäre, erste Forschungen. Was hatte die Verhaltensweise der Riesen ausgelöst? Wie hingen sie mit den Roten zusammen?
Am Ende erhielten sie folgendes Bild: Vor Urzeiten hatte eine aggressive Tierschwemme alles pflanzliche Leben auf dem Archipel bedroht. So taten sich die Bäume und die Roten gegen die Gefahr zusammen; die einen als Denker, die anderen als Arbeiter ohne individuelle Bedeutung.
Hagea empfand ein solches Ereignis als Wunder - doch Bluda erklärte ihr, daß so etwas schon auf vielen Planeten vorgekommen war.
Die Tiere wurden ausgerottet. Ein normaler Verdrängungsprozeß fand statt, der bis heute Erfolg gehabt hatte. Ohne evolutionären Druck jedoch stand die Entwicklung der Pflanzen auf dem Archipel still. Viele Fähigkeiten
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