1571 - Der fliegende Tod
großen Vogel handelte, dessen Schwingen sich nur leicht bewegten, er aber trotz seiner immensen Größe aussah, als wäre er nur eine Feder, die der vom Mondlicht beschienenen Träumerin immer näher kam.
Der große Kopf. Der lange und gekrümmte Schnabel. Ein Augenpaar, in dem sich eine irgendwie gnadenlose Kälte festgesetzt hatte.
Der riesige Vogel segelte direkt auf die Träumerin zu. Wäre jemand im Zimmer gewesen, er hätte den leisen Schrei der Schwangeren gehört, aber es war niemand da, und so blieb sie mit ihrer großen Angst allein.
Der Vogel packte nicht zu. Er huschte über sie hinweg, aber damit war er nicht verschwunden. Fatima konnte im Traum seinen Weg verfolgen, wie er die Einsamkeit verließ und dorthin flog, wo sie Menschen sah.
Es war ein Ort in der Wüste. Hohe Häuser, aus Lehm gebaut, schmale Gassen, die Schatten boten. Staubfahnen hingen in der Luft, die der Vogel durchflog, weil er auf der Suche nach einem Landeplatz war.
Und er senkte sich tatsächlich dem Boden entgegen, ohne auf ihm zu landen.
Es gab einen anderen Platz für ihn, denn er flog dorthin, wo ein einsames Feuer die Dunkelheit durchbrach. Sehr tief schwebte er weiter.
Am Feuer hielt sich kein Wachtposten auf. Der Riesenvogel umkreiste das Feuer in einer bestimmten Höhe.
Er schien etwas zu suchen, was er trotz seiner scharfen Augen nicht fand. Deshalb musste er landen.
Es sah federleicht aus, wie sich das schwere Tier dem Boden näherte.
Es landete in der Nähe des Feuers und schaute sich aus eiskalten Augen um. Dabei drehte es langsam den Kopf, als suchte er noch immer etwas, und spreizte sein Gefieder, als es etwas Bestimmtes entdeckt hatte.
Es war eine Hütte. Sie stand nicht weit von der Feuerstelle entfernt. Niemand schien darin zu leben, und die Hütte sah zudem aus, als hätte sie kein Dach.
Sie war das Ziel des Riesenvogels. Er hätte die Entfernung auch ohne zu fliegen zurücklegen können, aber das tat er nicht. Er hüpfte auf dieses Ziel zu, was bei seiner mächtigen Gestalt schon ein wenig komisch wirkte, aber er wollte nicht den gesamten Rest der Strecke auf diese Weise hinter sich bringen, denn mit eleganten Bewegungen seiner Schwingen hob er vom Boden ab und flog auf das alte Haus ohne Dach zu.
Der Riesenvogel schwebte über der Öffnung und schaute sich das an, was sich zwischen den vier Wänden befand. Vom Boden her wehte ihm ein leiser Schrei entgegen.
Ein Kind?
Er segelte tiefer. In der Mitte lag ein Knäuel aus Lumpen, doch dabei war es nicht geblieben. Auf den Lumpen lag ein kleines, zuckendes und leise wimmerndes Etwas.
Ein Kind - ein Säugling!
Der riesige Vogel senkte sich auf die Lumpen und das kleine Kind nieder. Für eine Weile war nichts zu sehen, bis der Vogel wieder in die Höhe glitt.
Jetzt war er nicht mehr allein. Mit den Spitzen seiner Krallen hielt er das Kind fest. Er, der Räuber, stieg mit seiner Beute schnell in die Höhe, tauchte in die Dunkelheit der Nacht ein und war wenige Sekunden später verschwunden…
***
Ein Schrei!
Sehr hell und schrill, wie aus einer tiefen Angst oder Panik heraus geboren. Weder der Vogel noch das Kind hatten den Schrei ausgestoßen, sondern die schwangere Fatima Herzog, die schlagartig aus ihrem Traum erwacht war.
Sie setzte sich gerade hin, sie schrie noch mal und schlug mit den Armen um sich, als wollte sie irgendwelche Angreifer wegscheuchen, aber ihre Hände schlugen ins Leere.
Sie fiel wieder ins Kissen zurück, wo sie schwer atmend liegen blieb.
Stiche durchzogen ihren Körper, die nichts mit Wehen zu tun hatte. Sie litt nach wie vor unter dem, was ihr dieser Traum als Botschaft gebracht hatte.
Es war ein schreckliches Bild, das sie mit in die Wirklichkeit gebracht hatte. Ein Riesenvogel, in dessen Krallen sich ein Säugling befand. Er hatte es geraubt. Er wollte es fortbringen. Er wollte es vielleicht auch töten…
Fatima schlug die Hände vor ihr Gesicht. Plötzlich wollte sie ihren Bauch nicht mehr sehen.
Auch sie würde bald ein Baby bekommen. Morgen oder übermorgen, und jetzt hatte sie diesen Traum erlebt. Kurz vor der Geburt war er ihr geschickt worden, und das konnte sie nur als ein schlechtes Omen ansehen.
Von außen wurde die Tür aufgedrückt. Die mächtige Gestalt der Nachtschwester Mary erschien. Ihre Augen waren noch größer als sonst.
Und sie kam auf das Bett zu.
»Fatima?«
»Ja.«
»Haben Sie geschrien?«
Die Schwangere nickte.
»Und warum haben Sie das getan? Hatten Sie Schmerzen? Haben die Wehen
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