1572 - Das Ritual
streckte ich vor. Wenn alles so blieb, würde mich die Prozession passieren. Noch musste ich warten, weil sie sehr langsam gingen. Der erste junge Mann erschien. Es war der Hellblonde, der am meisten gesprochen hatte. Ihm folgte der mit der Kappe auf dem Kopf und am Ende der Reihe ging der dritte junge Mann.
Nein, es war nicht das Ende der Reihe. Es kam noch jemand.
Lambert trat mit einem langen Schritt über die Schwelle. Es sah so aus, als wollte er weitergehen, doch mitten in der Bewegung stoppte er, als hätte man ihm einen Schlag versetzt. Er stieß sogar einen leisen Schrei aus und ging nicht mehr weiter.
Ich wusste, was geschehen war, denn ich spürte die Reaktion meines Kreuzes.
Der Stich auf der Brust.
Jetzt war alles klar!
Und trotzdem blieb ich liegen. Nur nicht melden, denn ich wollte Lambert noch mehr verunsichern. Er wusste nun, dass ein Feind in der Nähe lauerte, aber er wusste nicht, wo er sich befand, und ich tat ihm nicht den Gefallen, mich zu zeigen.
Lambert achtete nicht mehr auf seine Jünger. Er stand starr auf dem Fleck und drehte nur leicht den Kopf, weil er in alle Richtungen schauen wollte.
Es war noch nicht ganz dunkel, deshalb konnte ich ihn gut sehen.
Ein Mensch, vor dem man sich ekeln musste. Eine Gestalt zwischen Mann und Frau. Mit einem Gesicht, das kaum zu beschreiben war, weil sich da das Männliche und das Weibliche in ihm vereinigten.
Ich schaute zu, was er tat.
Er ging zurück. Nicht hinein in die primitive Hütte, er strebte in eine andere Richtung und bewegte sich von mir weg, was auch verständlich war, denn er wollte dem Dunstkreis meines Kreuzes entweichen.
Ich tat noch immer nichts und ließ ihn gewähren, weil ich erfahren wollte, was er noch mit seinen Freunden oder Dienern vorhatte. Er stand dicht vor dem Ziel, und ich glaubte nicht, dass er jetzt aufgeben würde.
Die jungen Männer waren schon weitergegangen. Sie hatten sich meinem Blick entzogen, und Sekunden später war das Gleiche mit Lambert geschehen.
Ich hatte den richtigen Moment abgewartet. Noch lag ich auf dem Boden und fühlte mich, als hätte man mich in einen feuchten Teppich gewickelt.
Langsam zog ich die Beine an, drückte den Oberkörper in die Höhe und stand dann auf.
Und ich tat noch etwas, bevor ich mich in Bewegung setzte. Ich wollte nicht, dass mein Kreuz durch die Kleidung versteckt blieb. Deshalb nahm ich es und hängte es vor meine Brust.
Von Lambert und seiner kleinen Gruppe war nichts mehr zu hören. Den Weg, den sie genommen hatten, führte nur zu einem Ziel, nämlich ins Wasser.
Und dahin wandte ich mich auch.
Sie hatten bereits einen kleinen. Vorsprung. Es waren nur noch wenige Schritte, bis sie den Wall aus Schilf erreicht hatten. Das heißt, einer der jungen Männer stand bereits im Wasser, das ihm bis zu den Hüften reichte. Und er machte keinerlei Anstalten, seinen Weg zu stoppen.
Er ging weiter. Die beiden anderen folgten ihm. Nur Lambert blieb stehen und schaute ihnen zu. Er starrte auf ihre Rücken, als wollte er sie hypnotisieren, und er musste mich für den Moment vergessen haben, denn er drehte sich nicht um.
Es war meine Chance.
Bevor das Wasser über dem Kopf des ersten Mannes zusammenschlagen konnte, sprach ich Lambert an.
»Halt sie zurück!«
Ein Schrei schrillte aus seinem Mund.
Ich sah, dass er in die Höhe sprang und dabei in der Luft eine Drehung vollführte. Als seine Füße den weichen Boden wieder berührten, starrte er mich an.
Nein, nicht mich.
Seih Blick war auf etwas anderes gerichtet, das deutlich sichtbar vor meiner Brust hing.
Er konnte den Blick nicht davon abwenden. Er war starr. Er stierte nur nach vorn, und er hielt den Mund offen, in dessen Kehle so etwas wie ein Röcheln entstand.
Ja, es war das Finale.
Er oder ich.
Seine Diener oder Jünger spielten im Moment keine Rolle. Sie gingen auch nicht mehr weiter. Sie standen im Wasser, sie hatten sich umgedreht, sodass sie uns anschauen konnten. Sie warteten offenbar darauf, was geschehen würde. Wer würde letztendlich der Sieger sein?
Ich zog nicht meine Waffe, sondern wartete darauf, was Lambert vorhatte. Wenn ich ihn ansah, so wie es jetzt der Fall war, konnte ich ihn nicht ernst nehmen. Das lag an seinem Aussehen. Es war einfach zu lächerlich, um gefährlich zu wirken.
Halb Mann, halb Frau, das konnte es doch nicht sein. Das war nicht der Weg zur Vollkommenheit. Und doch hatte er schon drei Tote hinterlassen. Ich musste nur an das Bild denken, als Paul Köster Selbstmord
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