1582 - Das Kimalog
überhaupt auszusprechen, nannte er sie lediglich „Oi", und Soira fand das sogar nett.
Oi hatte schon zu sprechen gelernt, bevor sie laufen konnte, und sie entwickelte schon bald eine erstaunliche Redegewandtheit, mit der ihre Intelligenz jedoch nicht Schritt halten konnte.
Es gefiel ihr, mit Adonor zu spielen und seine Gesten und Manipulationen mit Gegenständen zu kommentieren.
Da sie ihm meistens nicht ganz folgen konnte, leistete sie sich unzählige Fehlinterpretationen, über die sie nachher ausgelassen lachten, wenn Adonor ihr unter, einigen Mühen deren richtige Bedeutung erklärt hatte.
Adonor lachte aber nie so lauthals wie Oi, weil er das von ihm produzierte Geräusch selbst als Mißton empfand.
Er lachte lautlos, was ihm einen Ausdruck von unergründlicher Verschmitztheit verlieh, zumal seine Lippen unter dem roten Haarbausch der Mundpartie nur zu erahnen waren. Sein Haar wuchs so üppig wie sein junger Kimastrauch.
Als er ihr nun das Modell seiner Welt, wie er sie sah, zeigte, jauchzte Oi begeistert. Aber sosehr er sich auch anstrengte, ihr die Bedeutung und den Sinn zu erklären, sie begriff nichts. Sie plapperte in kindlichem Unverstand drauflos und begann plötzlich, die Bauklötze umzugruppieren, symbolträchtige Gegenstände durcheinanderzuwirbeln - kurzum, sie zerstörte Adonors so mühsam aufgebaute Welt.
Er kauerte verständnislos da und konnte nicht einmal einschreiten, als sie mit ihren plumpen Händen die drei Blumen ausriß und an anderer Stelle in den Boden zu stampfen versuchte.
Adonor war wie in Agonie, und als er daraus erwachte, begann er Oi zu schelten. Es hörte sich in den Ohren des Mädchens furchtbar an; sie mußte die gutturalen Laute wie Schläge empfunden haben, denn sie lief schluchzend davon und ließ sich nie wieder blicken.
Seine Mutter versuchte ihn zu trösten. Aber er verstand einfach nicht, wie Oi so mutwillig zerstören konnte, was er so mühsam und liebevoll aufgebaut hatte. „Wir tragen das unselige Erbe unserer Urahnen in uns", versuchte ihm Zyna verständlich zu machen. „Bis zu einem gewissen Alter leben wir einen ererbten Zerstörungstrieb aus - und danach, wenn unser Kima stark genug geworden ist, nie wieder. Du bist da eine Ausnahme, Ado. Soira hat nichts Böses gewollt."
Adonor beruhigte sich, er schien zu verstehen.
Die plastische Operation verlief erfolgreich. Es traten auch während des Heilprozesses keine Komplikationen auf, und es blieb nur eine kleine Narbe zurück, ein heller Fleck an der Oberlippe, der seinen vollen Mund sogar noch mehr zur Geltung brachte.
Mit fünf konnte Adonor Cyrfant bereits ganz normal sprechen. Es war noch ein fremder Klang in seiner Lautgebung und Betonung der Worte, aber er sprach diese völlig korrekt aus. Nur sein Sprachschatz ließ noch zu wünschen übrig.
Er hatte den Kopf voller Bilder und Vorstellungen, aber es fehlten ihm dafür die Namen. Er hatte mehr Bilder als Worte - eine Fülle von Vorstellungen, aber kaum Möglichkeiten, diese umzusetzen. Dieses Manko trug er ein Leben lang mit sich.
Dies war der Grund, warum er sich bei komplizierten Zusammenhängen auch weiterhin der Darstellung zu bedienen versuchte.
Das besserte sich mit den Jahren.
Mit sechs hinkte er seinen Altersgenossen nicht mehr hinterher, und mit acht hatte er die meisten eingeholt. Er war zehn, als sein Vater voller Stolz behaupten konnte, daß Adonor bis auf ganz seltene Ausnahmen alle seines Jahrgangs in Sprache, Wortschatz und Ausdrucksweise überflügelt hatte.
Molin schöpfte neue Hoffnung, daß sein Sohn die Anlagen zu einem Friedensstifter haben könnte. Denn auch sein Kimastrauch war von üppiger Blüte und ungewöhnlichem Wachstum. Bald schon erreichten die obersten Triebe kitzelnd Adonors behaarte Nasenspitze und brachten ihn zum Niesen. Und es dauerte nicht lange, da mußte er zu den Blüten der Krone hinaufsehen.
Sosehr Adonors Geist auch mit dem Kimastrauch wuchs, so blieb er von Gestalt unscheinbar.
Wohin er auch kam, er war zumeist der Kleinste in der Runde. Nur seine dunkelroten Haare sprossen wie die Triebe seines Strauches. Er hatte wunderschönes Haar, glatt und borstig, aber von eigentümlichem Glanz, wie von einem inneren Leuchten.
Auf Anraten seiner Mutter rasierte er sich den Mund frei; einer der wenigen Ratschläge die sie ihm ab dieser Lebensphase geben konnte. Das widerspenstige Haupthaar ließ er jedoch wachsen und begann es sich in die Höhe zu striegeln und zu einem imposant wachsenden Turm zu
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